Meine früheste Begegnung mit Japan hatte ich im Alter von sechs Jahren in Form einer kleinen, knopfäugigen Katze mit Namen „Kitty“. Ich entdeckte sie auf dem Kinderrucksack meiner japanischen Freundin und war sofort in Liebe entbrannt. Seit diesem Tag stand für mich eines fest: Japan, das Land, aus dem diese – für mich – so wunderschöne Katze herkam, musste einfach ein tolles Land sein. Meine Mutter, eine Kindergärtnerin mit Abneigung gegen jede Art von Plastikspielzeug und Kitsch, konnte ich zwar nie davon überzeugen, mir meinen Herzenswunsch nach Kitty- Produkten zu erfüllen, und dennoch – oder gerade deshalb – ist meine Liebe zu Kitty auch im Erwachsenenalter nicht wirklich verschwunden. Immer wieder kaufte ich mir heimlich den einen oder anderen Radiergummi und strich um die Kitty-Auslagen in Spielwarenläden und Kaufhäusern, um die neuesten Kitty-Trends nicht zu verpassen.
Im Laufe der Zeit hat sich mein Bild von Japan natürlich gewandelt; ich stellte fest, dass Japan außer Kitty noch sehr viel mehr zu bieten hat. Um so gespannter machte ich mich deshalb vor knapp zwei Jahren zum ersten Mal auf den Weg nach Japan, um als Deutschlehrerin an einer japanischen Universität zu arbeiten. Und natürlich traf ich meine liebe Bekannte Kitty wieder. Aber nicht nur in Spielwarenläden oder Kitschboutiquen ist Kitty präsent, sondern wirklich in allen Lebenslagen. So gibt es zum Beispiel passend zur Kitty- Bettdecke den Kitty- Pyjama, zum Mittagessen kann man sich seine Kitty- Fertignudeln im Wasserbad erhitzen, Kitty singt im Kinderprogramm, gibt Lese- und Schreibunterricht für Grundschüler, warnt davor, dass man sich die Finger in der U-Bahn-Tür einquetschen kann, und erteilt auch andere nützliche Lebenshilfen, wie z.B. die richtige Benutzung einer Toilette.
Ein Traum für jedes Kind möchte man meinen, doch Kitty läßt nicht nur Kinderherzen höher schlagen. Die gesamte weibliche Bevölkerung scheint zu einer treuen Schar von Kitty- Anhängern vereint zu sein, und das bereits seit über zwanzig Jahren. Studentinnen telefonieren mit rosaroten Kitty- Handys, lassen sich im Kitty- Purikura- Automaten fotografieren und tragen Kitty-Socken. Für schwangere Frauen gibt es das schicke Kitty-Umstandskleid, und ältere Frauen mit Kitty-Spangen im Haar auf der Straße anzutreffen, passiert nicht selten. Für die Reiselustigen unter den Japanern – und welcher Japaner zählt nicht dazu – hat sich der Kitty-Hersteller Sanrio etwas ganz besonderes einfallen lassen: In Kyoto kann man kleine Kitty-Anhänger im Kimono erwerben, in Takayama (Gifuken) ist Kitty wie das Stadtmaskottchen ganz in Schwarz-Rot gekleidet, in Seoul und Hawaii gibt es Kitty ebenfalls in der Landestracht zu kaufen. Und um Kitty lebensnah zu erleben, können ganz hartnäckige Fans ihren Liebling und alle anderen Figuren der Sanrio- Familie in den Themenparks „Harmonyland“ auf Kyûshû oder „Puroland“ in der Nähe von Tokyo besuchen.
Selbst das traditionelle Japan ist vor Kitty nicht sicher: Rechtzeitig zum Kinderfest am fünften Mai, an dem japanische Familien ihre Häuser mit Karpfenwimpeln schmücken, liegen auch Wimpel mit Kitty- Aufdruck in den Kaufhäusern aus. Nicht zu vergessen die Kitty- Sommerkimonos, mit denen jüngere Mädchen an warmen Abenden auf die Straße gehen. In kleinen Zeichentrickfilmen schlüpft Kitty außerdem in die Rolle berühmter japanischer Märchenfiguren, wie z.B. der Bambusprinzessin Kaguya (dieses Märchen gehört zu den ältesten schriftlich überlieferten Erzählungen Japans), und gibt so kulturellen Nachhilfeunterricht. Und natürlich ist Kitty rechtzeitig zum diesjährigen Jahr der Schlange auch im Schlangenkostüm erschienen.
Weltweit werden in 40 Ländern gut 5.000 Kitty-Artikel verkauft. Der erste, ein kleiner Kitty- Geldbeutel, kam 1974 auf den Markt. Damals hatte Kitty noch nicht einmal einen Namen. Mittlerweile hat sie natürlich nicht nur diesen, sondern auch eine ganze Lebensgeschichte auf den Leib geschrieben bekommen: geboren am ersten November lebt sie heute mit ihrer Familie in einem Vorort von London – was sie allerdings nicht daran hindert, ein Leben im japanischen Stil zu führen. Zu ihren Hobbys zählt sie Klavier spielen, reisen, Musik hören, lesen, Kekse essen und neue Freunde kennenlernen. Will man den neuesten Gerüchten Glauben schenken, ist sie mittlerweile sogar mit ihrer Jugendliebe Daniel verheiratet – das heiratsfähigen Alter hat sie mit ihren 27 Jahren ja auch erreicht, zumindest nach japanischer Auffassung.
Fragt man Japanerinnen, warum Kitty in Japan so beliebt ist, bekommt man häufig zu hören, man fühle sich mit Kitty einfach in seine Kindheit zurückversetzt und somit gleich viel jünger. Also ist es der Wunsch nach „ewiger“ Jugend, der Kitty zum dauernden Verkaufsschlager macht? Kitty ist weder besonders stark, noch schlagfertig oder witzig. Sie ist auch keine Weltverbesserin, setzt sich nicht für Arme oder Schwache ein. Fehlte das Kitty- typische Accessoire, das rote Schleifchen am Ohr, ließe sie sich noch nicht einmal von ihren Familienmitgliedern unterscheiden, von einigen Runzeln auf Großvaters Stirn einmal abgesehen. Ihr Gesicht bleibt immer gleichermaßen ausdruckslos lieblich, zeigt weder Trauer, noch Wut. Auch übermäßige Freude scheint Kitty fremd zu sein. Und so liegt ihr Trumpf wohl gerade in dieser Schlichtheit und Niedlichkeit, mit der sie die Herzen der Japanerinnen erobert hat und wohl auch weiterhin erobern wird.
Die männliche japanische Bevölkerung weiß mit Hello Kitty allerdings wenig anzufangen, steht ihr manchmal sogar abweisend gegenüber. Kindisch finden sie Kitty, und peinlich das Verhalten der Kitty-Fans.
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