Die alte japanische Religion, Shintô, ist insbesondere durch ihre außerordentliche Vielfalt auffällig. Der Ursprung hierfür ist in ihrem regionalen Charakter und ihrer schwach ausgebildeten Dogmatik zu suchen. Ziel dieses Artikels soll es dabei sein, über die vorhistorische, wahrhaft unsystematische Volksreligion schließlich zu einer Darstellung des formalisierten Staatskultes der Nara-(720-784) und der Heian- Zeit (794-1180) zu gelangen.
Das Göttliche in allen Dingen – die kami
Wesentlich in der Religion des Altertums war der Glaube an kami. Dieser Ausdruck ist nur schwer zu fassen. Ursprünglich bezeichnete er etwas Hervorragendes, als machtvoll Empfundenes, also Naturerscheinungen oder in der Natur existierende Dinge wie die Sonne, den Mond, Blitz und Gewitter, Berge, Seen oder auch Bäume und vieles mehr; die gesamte Natur beziehungsweise Welt wurde als beseelt empfunden, das heißt, letztendlich trug jedes Ding, ob belebt oder unbelebt, einen Anteil des kami-Geists in sich. So wird auch in den Mythen von 800 Myriaden kami berichtet, die die Erde und den Himmel bevölkerten – eine unendliche Vielzahl an anbetungswürdigen Wesenheiten!
Mit der Zeit trat eine Abstraktion ein. Die kami wurden zu unsichtbaren Wesen, von denen es keine bildliche Vorstellung gab, die bisher selbst als die kami verehrten konkreten Erscheinungen wurden nun als deren äußere Hülle, als eine Manifestation der Gottheit in der sichtbaren Welt der Menschen angesehen. Außerdem nahm man verschiedenste Gegenstände, vor allen Dingen Schwerter oder Spiegel, als „Götterkörper“ (shintai), in denen sich die Gottheit niederlassen konnte. Diese shintai erfuhren sozusagen als Vertreter der Götter die diesen zu zollende Anbetung, obwohl man keineswegs glaubte, dass der kami immer in seinem shintai weilte; vielmehr war man überzeugt, dass die kami nur zu Zeiten von Festen oder Ritualen aus ihrem Reich in das der Menschen hinabstiegen und sich in ihren Götterkörper niederließen. Durch diese Konzeption kam es zu einer Austauschbarkeit von kami und shintai, das heißt, shintai wurden oft nicht nur als heilige Gegenstände verstanden, sondern als der kami selbst.
Eine Religion der Praxis
Es gab zwei Punkte, in denen sich das altertümliche Shintô grundsätzlich von vielen anderen Religionen unterschied: es mangelte ihm sowohl an einer ausgeteilten Dogmatik als auch an einem besonderen Jenseitsglauben.
Der Shintô besaß im gesamten Altertum kein Lehrsystem, alle, die sich mit der Ausübung des Kultes befassten, wurden bestenfalls mit Hilfe von mündlich Tradiertem unterwiesen. Oft wurde durch Divination ein neuer Gottesdiener bestimmt. Wenn ein Amt vererbt wurde, lernte der Nachfolger von seinem Vorgänger die verschiedenen Kulthandlungen und Gebete. Es entstand also keine theologische Elite wie im Christentum. Das Fehlen jeglicher Doktrinen und Dogmen (davon kann jedoch spätestens ab der Neuzeit von 1603 an keine Rede mehr sein) erleichterte das Entstehen immer neuer Kulte und Vorstellungen.
Was das Jenseits anging, so blieb es in der Vorstellung der Japaner bis zur Einführung des Buddhismus recht undeutlich. Der alte Shintô war eine Religion des Diesseits, eine weltbejahende Religion mit praktischem Hintergrund: an die Gottheiten gerichtete Gebete und Opfer sollten zu Verbesserungen der realen Lebensumstände fuhren und zielten nicht auf ein Leben nach dem Tod, Erlösung oder dergleichen. Auch die eindimensionale Weltsicht des Shintô war von entscheidener Bedeutung: die erlebte Welt war die tatsächliche Welt, eine Geisterwelt in einer anderen Dimension gab es nicht, ein Totenreich, das sich in der erlebten Welt befand, wurde zwar angenommen, jedoch blieben die Vorstellungen darüber schwammig.
Shintô – Volksglauben oder Staatsreligion?
A. Schamanismus
Sowohl im Volk, als auch im Rahmen des Staatskultes waren verschiedene Besessenheitspraktiken fester Bestandteil des Kultes. Man glaubte, dass eine Gottheit von einem Menschen Besitz ergreifen und durch diesen Orakelsprüche, Segen oder Fluch verkünden könnte. Der japanische Schamanismus stammt noch aus archaischen Zeiten, in Japan bestand wohl noch mindestens bis ins 3. Jahrhundert eine matriarchalische Gesellschaftsform, in der Frauen zugleich Herrscherinnen und Priesterinnen waren. Aufgrund dieser Ursprünge gab es im Altertum neben einer ansonsten übermächtigen männlichen Priesterschaft fast ausschließlich weibliche Schamanen, miko oder itako, die mal zu einem Schrein gehörten, mal als aruki-miko („wandernde miko“) umherzogen. Sie mussten besondere Enthaltsamkeitsregeln einhalten, das heißt, dass sie insbesondere jungfräulich sein und bleiben mussten. Nachfolgerinnen wurden entweder durch verschiedenste Prüfungen ermittelt oder das Amt wurde matrilinear, also bestenfalls von der Tante zur Nichte, eigene Kinder konnte es ja nicht geben – vererbt.
Als Schreinmädchen, den miko ähnlich, dienten sogar kaiserliche Prinzessinnen, die, mit Unterbrechungen, bei Antritt eines neuen Kaisers zu den Schreinen in Ise, Izumo, Kamo und Miwa gesendet wurden. Der Schamanismus war bis zur Bedeutungszunahme der Orakeldeutung im Staatskult sowie noch länger im Volksglauben ein so wesentliches Element, dass manche Wissenschaftler gar von der Religion des Altertums als „miko-Religion“ sprechen.
B. Beziehungen zum Buddhismus
Dem „Nihongi“ zufolge wurde der Buddhismus offiziell – ohne Zweifel war diese Religion schon vorher, beispielsweise durch die eingewanderten Koreaner und Chinesen, bekannt – im Jahre 552 eingeführt, indem der König des koreanischen Reiches Paekche dem Kaiser eine Buddhastatue aus Goldkupfer schenkte und diesen Glauben in höchsten Tönen lobte als besonders vorteilhaft. Zu Anfang gab es sowohl Befürworter (z.B. Shôtoku taishi) als auch Gegner des Buddhismus; entschieden dagegen argumentierten MONONOBE no Okoshi und NAKATOMI no Kamako, zwei hochstehende Adlige und Führer mächtiger Klans. Entscheidener Fürsprecher des Buddhismus hingegen war der Führer des zu dieser Zeit mächtigsten Klans der SOGA, SOGA no Iname (506-570).
Der offizielle Grund für die MONONOBE und die NAKATOMI, vom Buddhismus abzuraten, war jener, dass sie befürchteten, die einheimischen Götter könnten über die Verehrung einer fremden Gottheit zürnen und das ganze Land dafür bestrafen. Allein diese Haltung zeigt, dass man keineswegs den Buddhismus als der einheimischen Religion unvereinbar gegenüberstehend empfand, sondern Buddha nur als weitere, wenn auch aus dem Ausland stammende Gottheit ähnlich den einheimischen kami sah. Buddha war eine neue Gottheit, deren Verehrung durchaus neben der der originären Götter erfolgen konnte.
Von der oben geschilderten Ausgangssituation kam es allmählich zu einer Durchdringung des Shintô mit buddhistischen Elementen, die in der Vorstellung des honji suijaku („Urstand und herabgelassene Spur“) gipfelte.
In diesem Zusammenhang möchte ich den im 6. oder 7. Jahrhundert geprägten Begriff „Shintô“ („Weg der Götter“) näher beleuchten. Dieser stand nach weit verbreiteter Meinung keineswegs in Opposition zum sogenannten Butsudô, dem „Weg Buddhas“, sondern wurde aus dem chinesischen „Buch der Wandlungen“, dem I-Ching, besser bekamt als I-Ging, entnommen. Diesem Werk folgend, verstand man in Japan unter dem „Weg der Götter“ das Walten des Kaisers als Gott. Dies zeigt schon deutlich, wie der Kaiser zunehmend in den Mittelpunkt des Kultes gestellt wurde. Ab dem 8. Jahrhundert wiederum wurde der Begriff ausgeweitet auf alle Gottheiten (der Kaiser war ein „als Mensch sichtbarer Gott“, arahitogami), auch auf fremdländische; damit wären wir wieder zum Buddhismus zurückgekehrt: tatsächlich war Shintô also keineswegs ein oppositioneller Begriff, sondern er schloss den Buddhismus eigentlich sogar mit ein. Um auf den oben gefallenen Terminus honji suijaku („Urstand und herabgelassene Spur“) zurückzukommen, so handelt es sich in Kürze um folgendes: die Buddhas und Boddhisattvas sind die tatsächlichen göttlichen Wesen, der „Urstand“, um den Menschen in jeder Weltregion helfen zu können durch Verkündung ihrer Weisheit, erscheinen sie in der dem jeweiligen Menschenschlag am besten eignenden Form, und dies sind in Japan die kami, die „herabgelassene Spur“.
Mit anderen Worten: tatsächlich sind sämtliche kami Buddhas oder Boddhisattvas. Diese Idee wurde im Shingon-Buddhismus entwickelt, um eine gegenseitige Arrangierung miteinander zu erleichtern und bald allgemein übemommen.
Sowohl im Shingon- als auch im Tendai-Buddhismus entstanden daraufhin eigene shintôistische Lehren, nämlich der Ryôbu-Shintô sowie der Sannô-Ichijitsu-Shintô. Buddhistische Tempel aller Schulen nahmen sich kami als Schutzgottheiten, während die Schreine dazu oft Boddhisattvas wählten. Beide Religionen rückten auch geographisch zusammen, oft wurde in der Nähe eines Schreines ein Tempel gebaut und umgekehrt. Zudem gab es schon recht früh „Schrein-Tempel-Komplexe“, jingûji, also Schreinkomplexe, in die ein kleiner buddhistischer Tempel eingebettet wurde. Neben vielen weiteren Verschmelzungen gab es jedoch auch Bereiche im Shintô, die sich strengstens vom Buddhismus distanzierten; beispielsweise mußten die Kultprinzessinnen der großen Schreine in Ise, Izumo und Kamo, auf die ich später noch zurückkommen werde, verschiedene Tabuwörter durch unverfängliche ersetzen, denn man befürchtete spirituelle Verunreinigung. Viele dieser Tabuausdrücke hingen mit dem Buddhismus zusammen: „Buddha“, „Sutra“, „Pagode“, „Tempel“, „Mönch“, „Nonne“, „Fastenmahl“, „Buddha-Halle“ und „Laienmönch“ (die übrigen bezogen sich auf Tod und Krankheit, auf die ‚klassischen‘ Fälle von Unreinheit).
C. Der Volksglaube
In Japan war die Ahnenverehrung allgemein üblich. Jedoch wurde nicht etwa ein Ahn persönlich verehrt, sondern dieser fügte sich in die Reihe der Ahnen ein, die gemeinsam als Ahnengottheit verehrt wurden. Die Ahnengottheit war also eine abstrahierte, unpersönliche Gottheit, die die Ahnen einer Familie kollektiv vertrat.
In einem gewissen Gegensatz zu der Ahnenverehrung stand der allgemeine Umgang mit dem Leichnam. Aufgrund einer ausserordentlichen Totenfurcht war das einfache Aussetzen der Leiche im Wald sowie auch ansonsten ein dem westlichen Menschen respektlos erscheinender Umgang mit der Leiche durchaus gebräuchlich. Der Grund hierfür lag in der Vorstellung vom Tod und von der Leiche als etwas Unreinem, an dem man sich, spirituell beschmutzen (kegare: „Beschmutzung“) und möglicherweise Krankheiten, schlechte Ernte, Tod und andere Unglücksfälle auf sich ziehen könnte. Deshalb wusch man sich nach dem Umgang mit der der Leiche häufig an einem Fluß, um sich von diesem Schmutz durch äußerliches Abwaschen zu reinigen (misogi: „spirituelle Reinigung“ oder harai: „Reinigung“). Dennoch wurde die Leiche täglich von Angehörigen und Freunden besucht, bis sie völlig verwest war. Dann wurden die Knochen oft von eventuellen Resten gereinigt („Knochenwaschen“) und entweder beerdigt, zu Pulver zerstampft und verstreut, weggeworfen oder in einem See versenkt.
Unter dem Einfluss chinesischer Sitten entstand bald das mogari (mo: „Trauer“, agari: „zu Ende kommen“), bei dem die Leiche nicht mehr im Freien ausgesetzt wurde, sondern in einer Trauerhütte (moya) ein Jahr lang aufgebahrt wurde.
Nach dieser Frist wurden die Reste der Leiche an einem von der Trauerhütte entfernten Ort beerdigt.
Schließlich entwickelte sich ein Zwei-Gräber-System, wobei aus der Trauerhütte das Besuchsgrab (mairi-baka) wurde. Die Leiche selbst wurde im Bestattungsgrab (umebaka) beigesetzt, dem Toten wurde jedoch ausschließlich am Besuchsgrab gedacht. Das eigentliche Bestattungsgrab geriet schnell in Vergessenheit. Der Vorteil dieses Systems lag für die Japaner darin, dem Toten die gebührende Verehrung zollen zu können, ohne sich durch die Nähe der Leiche zu beschmutzen und verschiedene Reinigungs- und Meidungsriten durchfuhren zu müssen. War der Mensch schließlich so lange tot, dass sich niemand mehr an ihn persönlich erinnern konnte, so wurde er zum Ahnen. Er erfuhr als solcher Verehrung, aber auch als Teil der Ahnengottheit, zu dem er wurde. Die Ahnengottheit nun wurde mit vielen anderen Gottheiten identifiziert, mit Feldgottheiten, Berggottheiten Erdgottheiten und anderen.
Die Gottheiten des Volkes waren oft regional, das heißt, es gab in jedem Dorf einen eigenen Feldgott, jeder Berg hatte seine eigene Berggottheit und so weiter. Auch die Verehrung war in der Regel auf kleine Einzugsgebiete beschränkt. Wurden Gottheiten landesweit verehrt, so handelte es sich oft um vom Staat protegierte Kulte, wie zum Beispiel dem der Amaterasu, des Hachiman oder des Temman-tenjin.
Eine sehr zentrale Position im Volksglauben nehmen zweifelsohne die Berggötter ein. Dies zeigt sich auch in den Mythen des „Kojiki“ in denen von recht vielen Berggottheiten erzählt wird. Man muss allerdings zwischen den Berggottheiten der Jäger und den der Bauern unterscheiden. Erstere waren wilde Götter, Herrscher und Besitzer aller Tiere, die man verehren musste, damit eine Jagd erfolgreich verlaufen konnte. Im Zuge der Entwicklung zu einer Ackerbaukultur wurden die Berggottheiten der Jäger auch zu Schutzgöttern für das Vieh, gleichzeitig jedoch gewannen die Berggottheiten der Bauern an Bedeutung. Diese wurden gleichzeitig als segenspendende Feldgottheiten verehrt, denn man glaubte, dass die Berggottheiten alljährlich vor der Aussaat und nach der Ernte vom Berg herabkämen, Segen spenden beziehungsweise Opfergaben entgegennehmen und danach in die Berge zurückkehren würden.
Weil in den Bergen auch die Ahnen vermutet wurden und diese ebenso als segenspendende Beschützer ihrer Familien galten, wurden auch die Ahnengottheiten mit den Berggöttem identifiziert. Hinzu kam, dass die Berggottheiten jedes Neujahr mit Hilfe von Jahresbäumen (toshigi), auf denen sie sich niedergelassen hatten, ins Haus gebracht wurden und dort als Jahresgottheiten (toshigami) verehrt wurden. Es fällt ins Auge, dass, dem Zwei-Gräbersystem des Totenkultes und der damit verbundenen Ahnenverehrung sehr ähnlich, zum Kult einer Berggottheit zwei getrennte Schreine gehörten: einer, der sato-miya („Dorfschrein“) in der Nähe des Dorfes, der andere, der yama-miya („Bergschrein“) in den Bergen. Der Kult der Berggottheiten zeigt so auf signifikante Weise die Folgen des Fehlens einer festgelegten, ordnenden Lehre.
Ähnliches gilt auch für die Erdgötter (iigami), die ebenso mit den Ahnengöttern in Verbindung gebracht wurden. Einem Erdgott errichtete man in einer Ecke hinter dem Haus unter einem Baum einen kleinen Schrein aus Stein, oder man betete zu einem Erdgottbaum (iigamiki) im Wald, an dessen Fuß man einen Stein, eine kleine Stupa oder eine Jizô-Statue aufstellte. Besonders letzteres wirft ein Schlaglicht auf eine Beziehung der Erdgötter zum buddhistischen Jizô.
Ein anderer wichtiger Gottypus war der des Weggottes (dôsojin). Man geht davon aus, dass es sich möglicherweise um eine besondere Form des Berggottypus handeln könnte. Die Weggötter wurden als an Wegkreuzungen wohnende Gottheiten betrachtet, die Unglück vom Dorf abwenden konnten, Weggötter betete man daher auch als sai no kami an, als „Abwehrgötter“. Als Dorfgottheit erfuhr ein Weggott Verehrung als Gott der Harmonie im Dorf und des Familienfriedens. Das Weggötter auch im Staatskult einige Bedeutung hatten, belegen die im Altertum staatlich angeordneten „Weggelagefeste“. Zuletzt sollen noch Gottheiten der Fischer, unter denen der „Drachenkönig“ (Ryûô) und die Schiffsgottheit, Funadama wohl die wichtigsten waren, erwähnt werden. Während ersterer als Gott des Meeres allgemein angebetet wurde, verehrte man Funadama speziell als das Schiff vor dem Kentem oder ähnlichem Unbill schätzende Gottheit. Desweiteren glaubte man einen Gott der Fischer, Schiffer und der Reisenden, Kompira, und an Ebisu, eine aus dem Hinduismus eingeführte Gottheit. Funadama, Ryûô, Kompira und Ebisu sind Einzelgottheiten, die überregional verehrt wurden. Ebisu bildete gemeinsam mit einem anderen ursprünglich hinduistischen Gott, Daikoku, ein Glücksgötterpaar.
Praktisch alle Gottheiten konnten nämlich Familiengötter, Gehöftgötter (yashikigami), Hausgötter, Zimmergötter, Herdgötter, Dorfgötter oder Klangötter (ujigami) sein. Dies bedeutet, dass eine Gottheit nur von einer einzigen Familie oder einem ganzen Dorf oder sogar einem großen Klan angebetet werden konnte. Häufig kam es dabei zu Überschneidungen, eine Dorfgottheit konnte also außerdem Klangottheit eines ansässigen Klanes und dazu noch Familiengott einer klanfremden Familie sein. Zudem legte sich mit zunehmender Herausbildung von Berufsgruppen jedes Gewerbe einen eigenen Schutzgott zu, die durch gewerbeeigene Bruderschaften, kô, besondere Betreuung erfuhren, zum Beispiel durch Wallfahrten. Auch in den Dörfern gab es kô, die zum Wohle des gesamten Dorfes beispielsweise nach Ise zur großen Gottheit Amaterasu wallfahrteten oder zum Schrein des Hachiman oder der Inari, also zu Schreinen populärer, im ganzen Lande verehrter Gottheiten.
Eine Besonderheit der japanischen Glaubenswelt war der kôjin-Glaube. Es gab viele verschiedene Götter, die als kôjin, als „tobender Gott“ Anbetung empfangen konnten, beispielsweise Gehöftgötter, Klangötter, Herdgötter, Feuergötter oder Erdgottheiten. Besonders verbreitet waren köjin jedoch in West-Japan und auf Kyûshû. Auffällig ist, dass es in Gegenden mit Erdgottheit-Verehrung keine kôjin gab – und umgekehrt. Mit den Erdgottheiten gemeinsam hatte der kôjin auf jeden Fall sein aufbrausendes, leicht erzürnbares Wesen. Zweifelsfrei gesichert zu sein scheint die Identifikation mit den Ahnen beziehungsweise der Ahnengottheit, denn der shintai eines kôjin war in der Regel ein Ahnentäfelchen des buddhistischen Hausaltars.
Vermutlich nahm der kôjin seinen Anfang in einem Ackerbaugott-Glauben, dafür spricht, dass manchmal auch der soeben geerntete Erstlingsreis zu einem shintai gemacht wurde. Eine kôjin-Bruderschaft (kôjin-kô) pflanzte Reis auf speziell hierzu ausgewählten Feldern an.
Das ganze Konzept des kôjin-Glaubens legt nahe, daß es sich beim kôjin um eine besondere Zustandsform einer Gottheit handelte, so gibt es zum Beispiel eben eine , gewöhnliche‘ Feuergottheit und eine kôjin-Feuergottheit. Letztere unterscheidet sich von der Gottheit im gewöhnlichen Zustand dadurch, daß sie „tobend“ ist. Die Ähnlichkeit mit dem ara-mitama („wilder Geist“) im Staatskult ist eindeutig, und es bestehen wohl ohne Zweifel Zusammenhänge.
D. Shintô als Staatsreligion
Das Fundament für den Staatskult des Altertums bildeten die Mythen, die im „Kojiki“ und im „Nihongi“ niedergelegt sind. Man muss sich immer wieder vor Augen halten, dass die Mythen als politisches Instrument zur Legitimation von Herrschaftsverhältnissen niedergeschrieben und dabei den Erfordernissen angepasst wurden. Den Mythen zufolge war die Welt anfangs ein diffuses Gemisch, ein Chaos. Nach einiger Zeit trennten sich Himmel und Erde, indem das Leichte sich ausbreitete und emporstieg, das Schwere jedoch zurückblieb. Nach den drei ersten Gottheiten, Ame no Nûnakanushi („Herr der hehren Himmelsmitte“), Takanûmusubi („Hoher hehrer Erzeuger“) und Kanûmusubi („Göttlicher Erzeuger“) folgten verschiedene weitere, jedoch unbedeutende Göttergenerationen, bis zum Urpaar, Izanagi und seiner Schwester Izananû. Diese erzeugten die Insel Onogoro („Die von selbst Geronnene“), indem sie, auf der Himmelsbrücke stehend, mit einem Speer in der Ursuppe rührten; die Tropfen, die beim Herausziehen herabfielen, ließen die Insel entstehen. Dann stiegen sie auf Onogoro hinab, errichteten dort die „Acht-Klafter-Halle“ (yahirodono) als Palast mit einem Mittelpfosten als „Himmelspfeiler“. Die Zahl 8 trägt hierbei spirituelle Bedeutung: als Verdoppelung der vier Himmelsrichtungen verkörpert sie das Allumfassende, die Halle die gesamte Welt und der Mittelpfosten deren Mittelpunkt. Izananû und Izanagi zeugten daraufhin die „Acht Inseln“, womit Japan gemeint ist.
Danach gebar Izanami noch viele Gottheiten, starb jedoch bei der Geburt des Feuergottes. Izanagi tötete daraufhin ebendiesen und es entstanden aus den acht Teilen des Feuergottes acht Berggottheiten. Um seine Gemahlin und Schwester zurückzubekommen, stieg Izanagi in das Totenreich hinab, fand sie auch, zog sich aber ihren Zorn zu und musste von Dämonen verfolgt fliehen. Aus dem Totenreich zurückgekehrt, verschloss Izanagi den Eingang mit einem riesigen, unüberwindbaren Felsen. Dies symbolisiert die frühe Vorstellung von der Endgültigkeit des Todes. Die anschließende Reinigung in einem Fluß ist ebenso das erste Beispiel für ein harai, also die spirituelle Reinigung von „Schmutz“ im Sinne des kegare, denn Izanagi kam schließlich mit dem Tod in Berührung.
Im Verlauf dieser Reinigung entstanden zwei der wichtigsten Gottheiten des japanischen „Pantheons“: die Sonnengottheit Amaterasu beim Waschen des linken Auges und Susanowo beim Waschen der Nase. Desweiteren entstand der Mondgott als Bruder der Amaterasu beim Waschen des rechten Auges. Alle gemeinsam sollten als die „Drei erleuchteten Kinder“ die Welt beherrschen, nämlich Amaterasu den Himmel bei Tag, ihr Bruder bei Nacht und Susanowo die Erde. Jedoch dörrte Susanowo durch sein Weinen die Erde aus, verwüstete sie so und begann noch andere Untaten. Als deren Folge wurden Susanowo Bußen auferlegt und er wurde ins Wurzelland, ne no kuni, geschickt, um dort zu herrschen. Dabei handelt es sich um eine andere, eher positive Form des Totenreichs: dort warten die Totenseelen, auf Bäumen ruhend, quasi als Wurzeln des Lebens, auf ihre Wiedergeburt und Rückkehr in das Reich der Lebenden. Sowohl dies, als auch die Tatsache, dass Susanowos Tränen die Erde verdörrten und er beim Waschen der Nase entstand, dem Austrittsort des Atems, zeigen, dass Susanowo der Herr über Leben und Tod war. Er hatte die Macht, Leben zu spenden und zu nehmen. Damit hebt er sich in seiner Machtfülle deutlich von der eher blass bleibenden Amaterasu ab.
Im Jahre 613 unter Temmu-tennô (gestorben 686, regierte 673-686) erlebte der staatlich institutionalisierte Kult seine Geburtsstunde, als ein Götteramt, jinkan, mit einem „Göttervorsteher“, jingihaku, als Leiter eingerichtet wurde. Als dieses Amt 718 im Yôrô-Kodex, einer Reihe von konstitutiven Gesetzen, als jingi-kan zur festen Einrichtung gemacht wurde, stand es der offiziellen Ämterhierarchie nach an der Spitze, noch vor dem Amt des Großkanzlers. Die wichtigsten Aufgaben des jingikan waren die Aufsicht über die Götteropferfeste der staatlich bedachten Schreine, das Führen der Namenslisten der hafuribe und der kannagi , die Kontrolle über die Götterhaushalte, die Organisation der großen Staatsfeste und deren Beaufsichtigung und die Durchführung von Orakeln.
Ihren Höhepunkt erreichte die Formalisierung mit dem „Engishiki“ („Durchführungsbestimmungen der Ära Engi“), einem 927 von FUJIWARA no Tokihira (871-909) und FUJIWARA no Tadahira (880-949) fertiggestellten Regelwerk, in dem alle Bestimmungen für behördliche Verfahrensweisen des jingi-kan fixiert, sämtliche Gottheiten des Staatskultes in Götterlisten festgehalten und die großen Feste in ihrer Vorbereitung und ihrem Ablauf vorgeschrieben wurden.
Das Engishiki spiegelt so wider, wie sehr sich das Staatskultwesen seit dem jingi-ryô weiterentwickelt hatte.
Eine große Rolle spielten auch die Klane der NAKATOMI und der IMBE. Der Klan der NAKATOMI stellte dabei oft den Leiter des jingikan, der der IMBE, der immer etwas hinter den NAKATOMI zurückstehen musste, den eines Ober- oder Unterstellvertreters. Bei den großen Festen des Hofes fungierte der Führer der NAKATOMI als Rezitator des zu intonierenden norito, des Bittgebetes, und der Führer der IMBE brachte dazu vorgeschriebenen Opfergaben den Gottheiten dar. Es war sozusagen die vererbte Aufgabe dieser Klans, den Kult zu pflegen. Neben der Beamtenschaft des jingikan entstand auch an den großen Schreinen eine überbordende Verwaltung-, dieser stand der kannushi („Götterherr“) oder einjinai („Schrein-Amtswalter“) vor. Wohl um die Unterordnung aller Gottheiten unter dem göttlichen Herrscher deutlich nach außen zu demonstrieren, wurden den Gottheiten Ränge verliehen, die den weltlichen Hofrängen völlig entsprachen.
Ein Aufstieg im Rang konnte durch Verdienste erreicht werden, die die Gottheit sich beim Kaiser erworben hatte. Allerdings waren die Ränge seltsamerweise an den Schrein der Gottheit gebunden; wurde eine Gottheit also in mehreren Schreinen angebetet, so konnte ihr Rang von Schrein zu Schrein variieren.
Neben der bereits erwähnten Amaterasu-ômikami von Ise waren besonders die Schreine in Izumo und Kamo von Bedeutung. Zu allen dreien wurden bei Regierungsantritt eines neuen Herrschers Kultprinzessinnen geschickt. In Izumo waren die wichtigsten Gottheiten des Izumo-Mythenkreises eingeschreint: Take-haya-Susanowo und Ôkuninushi („Großer Herr des Landes“), in Kamo verehrte man vor allen Dingen Wake-ika-tsuchi, einen Donnergott. Die Gottheit Wake-ika-tsuchi war verbunden mit den Hata, einer japanisierten koreanischen Adelsfamilie mit großem Einfluß. Das Kamo-Fest war ein beim Volk beliebtes Großereignis mit vielen Tänzen, unter anderem der berühmte Löwentanz, shishimai, und Musik. Dies sollte nicht nur dem Publikum Freude machen, sondern zudem schadensabwehrend wirken. I wesentlichen handelt es sich um eine Zeremonie, bei der die Gottheit sich auf einem Sakaki-Zweig niederläßt und so in den Schrein geleitet wird.
Eine weitere Gottheit, die immer wichtiger wurde, war Yahata oder auch Hachiman („Acht Banner“). Er wurde besonders in politischen Dingen um Hilfe angerufen, allerdings sagte er auch beim Guss des Großen Buddha, einer 16 Meter hohen Bronzestatue, seine Hilfe zu. Der größte Verdienst Hachimans war es aber wohl, als er durch einen Orakelspruch verhinderte, dass ein Mönch namens Dôkyô die Macht an sich riss; diesem war es gelungen, nicht nur zum Vertrauten der Kaiserin Shôtoku (regierte von 764-770) aufzusteigen, sondern wohl auch zu ihrem Geliebten. Im Jahre 769 versuchte er die Kaiserin zu überreden, zu seinen Gunsten abzudanken. Selbst die Kaiserin, obwohl Dôkyô eigentlich gänzlich verfallen, wurde ob dieses hochfliegenden und ungeheuerlichen Ansinnens nachdenklich und schickte einen Boten zum Hachiman-Schrein. Von dort kam folgender Spruch der Gottheit zurück:
In unserem Staat ist seit Anbeginn der Welt festgesetzt, wer Fürst und wer Untertan. Daß man einen Untertan zum Fürsten machte, daß hat es noch nicht gegeben. Allein durch die himmlische Sonnenerbfolge wird die Linie der Kaiser erstellt. Man soll Thesen sittenlosen Menschen schnellstens entfernen!
So konnte der dreiste Versuch Dôkyôs abgewehrt werden, obwohl Shôtoku-tennô ihn bis zu ihrem Tod vor Bestrafung schützte.
Ich möchte an dieser Stelle zum Glauben an die goryô („erlauchte Wirkkraft“) kommen. Hierbei handelt es sich um die unruhigen Geister zu früh oder durch Unrecht Verstorbener. Eine allgemein öffentliche goryô-Feier gab es zum ersten Mal 863 in Kyôto, die man Sudô-tennô (750-785), verstorben als Kronprinz Sawara und postum in die Kaiserwürde erhoben, und anderen zu Ehren abhielt. Prinz Sawara war gemeinsam mit anderen in eine Intrige geraten, und sie alle waren unter dem Vorwurf der Rebellion offiziell verbannt worden. Sie starben bald darauf alle hintereinander unter etwas mysteriösen Umständen. Darauf folgte eine Zeit mit vielen Seuchen und Naturkatastrophen, von denen man glaubte, dies wäre die Rache der Unschuldigen, die sich nicht nur gegen die eigentlichen Täter, sondern gegen alle richtete. Um sie zu besänftigen und ihnen eine schnelle Erlösung im buddhistischen Sinne zu ermöglichen, ordnete schließlich der Kaiser selbst eine Feier, bei der in einem Garten des Palastes Musik, Tanz und andere Vergnügungen dargeboten wurden und die für das ganze Volk zugänglich war, an, jedoch wurde dies so positiv aufgenommen, dass die Zahl der privat das ganze Jahr über durchgenommen goryô-Feiern stark zunahm und schließlich diesbezüglich Verbote erlassen werden mußten.
Aus dem goryô-Kult stammt auch die Anbetung des Tenunan tenjin („Die den Himmel erfüllende, große Gottheit“); es handelte sich dabei um keinen geringeren als den früheren Kanzler zur Rechten SUGAWARA no Nûchizane (845-903).
Dieser wurde im Jahre 901 unter dem Vorwurf einer politischen Intrige verbannt und starb einige Zeit darauf erst 58-jährig an Unterernährung und Erschöpfung im Exil. Außer Nûchizane selbst wurden auch andere Familienmitglieder bestraft und verbannt, unter anderem sein kleiner Sohn, den er mit ins Exil genommen hatte. Einige Jahre nach Nûchizanes Tod nun wurde das Kaiserhaus und die Fujiwara-Familie von einer Reihe Todesfälle heimgesucht, dies betraf ausgerechnet die für Nûchizanes Unglück Verantwortlichen. Man war sich daraufhin sicher, dass Nûchizane als Rachegeist, als goryô, umging und durch Wiedergutmachungen beredet werden musste. Nachdem man ihm 947 einen Schrein in Kitano erbaut hatte, trat allmählich eine Wandlung ein: aus dem zürnenden, dämonischen Geist wird Temman tenjin, der Gott der Dichter und Literatur und Beschützer der unschuldig Angeklagten, die Befriedung war also offenbar erfolgreich.
Fast schon eher eine weitere Möglichkeit zu Vergnügungen, nicht so sehr zu feierlichen Zeremonien, stellte das Abhalten von kôshin-Tagen dar. Diese kamen sechsmal im Jahreskalender vor, nämlich immer dann, wenn im japanischen Datum die Zeichen für „Metall“ (kô) und für „Affe“ (shin) zusammentrafen. Ursprünglich aus dem chinesischen Taoismus nach Japan gekommen, glaubte man, dass drei schädliche Würmer, die im Körper des Menschen hausen sollten, an diesem Tag, während der Mensch schläft, dem Himmel von dessen Missetaten berichten würden, woraufhin die Lebensspanne des Menschen vom Himmel verkürzt würde- die Würmer konnten nämlich erst nach dem Tod eines Menschen diesen verlassen und frei sein, weshalb sie ihn auch durch verschiedene Krankheiten umzubringen trachteten. Wollte also ein Mensch verhindern, dass seine Lebensspanne verkürzt würde, musste er an kôshin-Tagen den ganzen Tag hindurch wach bleiben. Am japanischen Hof überbrückte man die Nacht solcher Tage durch Feste, bei denen zu Musik, Würfel- und Brettspielen, Dichtung und anderem, reichlich gegessen und getrunken wurde. Im Volk jedoch fand der kôshin-Glaube erst in der Muromachi-Zeit Verbreitung.
Das achte Faszikel des Yôrô-Kodex, das Jingi-ryô, befasst sich ausschließlich mit den Götteropferfesten, für die das jingi-kan zuständig war. Insgesamt werden 13 große Feste erwähnt, für die im Jingi-ryô genauestens festgelegt ist, wie lange und welcher Art die Enthaltsamkeit sein sollte, der sich alle Teilnehmer unterziehen mussten, und welche Aufgaben durch welche Ämter und Familien zu erledigen waren. Die Opferfeste hatten den Sinn, den Gottheiten Dank für eine gute Ernte auszusprechen und sie gleichzeitig fpr weitere Hilfeleistungen Milde zu stimmen. Oder um Schutz vor Übeln aller Art zu erlangen. In diesem Artikel sollen im folgenden die vier wichtigsten Feste kurz erläutert werden: das toshigoi, das tsukinami, das niinamesai und das daijôsai.
Das toshigoi und das tsukinami, beide entstanden zwischen 672 und 710, entsprachen sich weitestgehendst in Ablauf und Intention, abgesehen davon, dass ersteres im zweiten Monat, letzteres im sechsten Monat gefeiert wurde: fünfzehn Tage vor dem Fest begann man mit der Herstellung der Opfergaben, drei Tage vor dem Fest galten Enthaltsamkeitsregeln, und der Tag vor dem Fest unterlag strenger Enthaltsamkeit für alle Teilnehmer. An diesem Fest stellte man auf Tischen und auf Matten darunter im Kulthof des jingi-kan die Opfergaben auf Nachdem die Teilnehmer, nämlich die gesamte zivile Beamtenschaft der Hauptstadt, in fester Ordnung durch die verschiedenen Tore eingezogen und die vorgeschriebene Sitzordnung eingenommen hatten, trug ein Nakatomi ein norito vor, und ein Imbe brachte die Opfergaben den Gottheiten dar und verteilte diese anschließend an die Teilnehmer. Die Zeremonie richtete sich an alle Götter und wurde gleichzeitig in der Hauptstadt und den verschiedenen Provinzverwaltungen abgehalten. Der Sinn des Rituals wird aus dem rezitierten norito ersichtlich: die Götter wurden aufgefordert, auch weiterhin ihren Segen zu spenden, so dass sie im nächsten Jahr vielleicht noch üppigere Opfergaben erhalten mögen.
Im norito wurde dabei ganz klar herausgestellt, dass Opfer nur für eine entsprechende Gegenleistung erbracht werden würden. Es handelt sich hierbei um Bittopferfeste, wobei der Ausdruck „Bitten“ fälschlicherweise eine demütige Haltung gegenüber den Göttern suggerieren könnte; tatsächlich wurde der gute Wille der Götter mit Nachdruck eingefordert. Die Feste hatten auch kaum eine religiöse, sondern eine sozio-ökonomische Funktion; im Vordergrund stand also nicht die Anbetung der Gottheiten, sondern das Funktionieren des Staates, wozu man sich der Gottheiten bediente. Sehr treffend formuliert der Minister Miyoshi Kiyoyuki (847-918) diesen Gedanken in einer Denkschrift aus dem Jahre 914:
Für den Staat ist das Volk das Höchste, für das Volk ist die Nahrung das Höchste. Gabe es kein Volk, worauf stutzte man sich? Gäbe es keine Nahrung, woran hielte man sich?
Auch das niinamesai („Kosten des Neuen“) und das daijôsai („Großes Kosten“) entsprachen sich in vielen Punkten, beide waren Dankopferfeste, bei denen der Kaiser den neu geernteten Reis kostete; jedoch erfolgte das niinamesai alljährlich im zehnten Monat, während das daijôsai nur im Jahr des Regierungsantritts eines neuen Kaisers im neunten Monat mit unglaublichem logistischem Aufwand und Pomp zelebriert wurde.
Beim daijôsai wurde nach den im „Engishiki“ formulierten Regularien in der Nähe des Schreines von Ise der „Palast der Großen Nahrung“ (daijôgû) errichtet. Dieser bestand im wesentlichen aus einer yuki („gereinigt“)-Halle und einer suki („folgend“)-Halle, die durch eine Umzäunung getrennt waren. Beim Fest nun nahm der Kaiser in der yuki-Halle hinter einem Vorhang die vorbereiteten Speisen zu sich, während vor dem Vorhang alle Würdenträger und Adeligen des Hofes dem Ritual beiwohnten, ein Nakatonû ein norito rezitierte und ein Imbe dem Kaiser die göttlichen Throninsignien darreichte. Anschließend daran wurde das Fest in der suki-Halle mit einem Bankett, Musik, verschiedenen Tänzen und Dichtung fortgesetzt.
Das daijôsai verlangte, wie bereits erwähnt, erheblichen Aufwand zur Vorbereitung. Alles nur Denkbare musste durch Orakel bestimmt werden. Nicht nur der genaue Ort und die genaue Zeit, sondern auch die Hörigenfamilien, die beim Bau der Festhallen helfen mussten oder bestimmte Rohstoffe liefern sollten, die Felder, von denen man den Reis für die Speisen nahm, die Wälder, aus denen man das Bauholz holte und vieles andere mehr musste zunächst ermittelt und dann gegebenenfalls durch shimenawa (im Ritus verwendete Absperrseile) vor unrechtmäßigem Betreten (man befürchtete kegare) geschätzt werden.
Schlussgedanken des Autors
Hauptanliegen dieses Artikels war es, die Vielschichtigkeit des Shintô aufzuzeigen, seine beiden Gesichter als dynamische Volksreligion auf der einen Seite und dem dem formalisierten, politischen Diktat unterworfenen Staatskult auf der anderen Seite, herauszuarbeiten. Es ist erstaunlich, wie ein scheinbar so schlichter Glaube wie der Shintô sich auf den zweiten Blick als ungeheuer komplexes Gebilde erweist. Es scheint sich um die Fortentwicklung eines ursprünglichen Naturglaubens mit der bereits dargestellten Flexibilität und Integrationsfähigkeit dieser Religion zu handeln. Mit der Abstrahierung der Gottheiten (so gab es im Altertum keine Abbilder von Shintô Gottheiten, bis der Buddhismus damit begann) ging man im Shintô den der westlichen Götterpersonalisierung entgegengesetzten Weg. Vermutlich ermöglichte aber gerade diese Abstrahierung und die in dieser Arbeit beschriebene Indifferenz die Einbeziehung praktisch aller sozialen Schichten in den Glauben und somit eine Befruchtung von allen Seiten.
Literatur zum Thema
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