Shodô, wörtlich übersetzt „Weg des Schreibens“, kommt ursprünglich aus China und wurde etwa im 6. Jahrhundert in Japan eingeführt. Die Kunst, chinesische Schriftzeichen (kanji) sowie japanische Silbenschrift (kana) zu schreiben, war anfangs den herrschenden Familien vorbehalten, später jedoch ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung aller Gesellschaftsschichten.
Aus den ursprünglichen Stilen tensho und reisho haben sich im Laufe der Zeit verschiedene andere Stile entwickelt: der kaisho Stil versucht die Zeichen mit größter Exaktheit darzustellen während gyôsho und sôsho wesentlich freier und flüssiger sind. Nach dem 2. Weltkrieg wurde ein ganz neuer, zeitgenössischer Stil, das zen’ei shodô, geboren. Dieser unterscheidet sich vom traditionellen Shodô vor allem durch eine starke Abstraktion der Zeichen.
Ein Künstler, der noch die ursprünglichen Stile tensho und reisho beherrscht, ist HAMANO Ryuho. Geboren am 24. Juni 1960 in Fukui, begann er sich schon als Kind für Shodô zu interessieren. Sein Talent wurde früh erkannt und durch namhafte Lehrer wie GAKI Fukuse gefördert. Inzwischen gibt HAMANO die Kunst des shodô selbst als Lehrer weiter und versucht, sich und seine Werke durch Ausstellungen, Vorträge und Workshops in Europa und den USA bekannt zu machen. Seinen eigenen unverkennbaren Stil verfolgend überrascht HAMANO mit seiner Kunst häufig den Betrachter. So nimmt eines seiner jüngsten Werke, „Senmonji“, beeindruckende Dimensionen an: 1000 Kanji auf einhundert Papierbahnen von je 400 mal 60 Zentimetern Größe versetzen den Betrachter in Staunen. Ein anderes aktuelles Werk zeigt HAMANOs Auseinandersetzung mit den Terroranschlägen in New York. Diese und andere Arbeiten sind zwischen dem 13. und 28. Februar 2002 während seiner nächsten Ausstellung in Salamanca, Spanien, zu bewundern. Im Herbst möchte HAMANO seine Kunst auch wieder in Deutschland zeigen. Zur Zeit ist er deshalb auf der Suche nach Sponsoren und geeigneten Ausstellungsräumen.
Das folgende Interview entstand am 17.1.2001 während eines Workshops in Toyohashi, Japan. Es wurde von Robin Loch und Stephanie Schmaus geführt.
HAMANO-san, können Sie sich noch daran erinnern, in welchem Alter Sie zum ersten Mal mit shodô in Berührung kamen?
Ich glaube, ich muss ungefähr vier Jahre alt gewesen sein. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich geschrieben habe, nur daran, wie ich den Pinsel in meiner Hand hielt. Das war ein gutes Gefühl.
War das damals für Sie eher ein Spiel?
Nein. Bereits damals habe ich Hiragana (Anmerkung: japanische Silbenschrift) geschrieben. Der Freund meiner älteren Schwester hat mich unterrichtet.
Was bedeutet Shodô für Sie?
Nachdem ich mein Studium an der Universität abgeschlossen hatte, wusste ich nicht so recht, wie mein weiterer Lebensweg aussehen sollte. Mein damaliger shodô-Lehrer schlug mir vor, mein Hobby doch zum Beruf zu machen. Warum eigentlich nicht, dachte ich mir. Obwohl ich von Kindheit an shodô gelernt hatte, habe ich mir bis dahin nie ernsthafte Gedanken darüber gemacht. Aber auf diese Weise wurde shodô für mich zu einer Möglichkeit, meinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Wichtig ist für mich beim shodô der Ausdruck meines Lebensgefühls. Ähnlich wie ein Maler mit seinen Gemälden oder ein Komponist mit seiner Musik kann ich durch shodô mich und meine Gefühle ausdrücken.
Inwieweit ist Shodô eine Technik, die jeder erlernen kann? Wo fängt Shodô an, Kunst zu sein?
Technik ist wichtig, sie bildet die Grundlage des Shodô. Ohne zuerst die Technik gelernt zu haben, kann man natürlich nicht gut schreiben. Je besser ich sie beherrsche, desto besser kann ich mich ausdrücken. Um die richtige Technik zu erlernen, erhält man eine vom Lehrer angefertigte Vorlage, die man so gut wie möglich kopieren muss. Sobald man die Schreibtechnik beherrscht, tritt das eigene Gefühl in den Vordergrund. Wenn der Schüler die Vorlage des Lehrers nicht mehr einfach nur kopiert, sondern die erlernte Technik einsetzt, um seine Gefühle und Gedanken auszudrücken, fängt shodô an, Kunst zu werden. Neben der erlernten Technik ist natürlich das Talent des Künstlers – wie bei jeder anderen Kunst auch – von Bedeutung.
Beim Shodô scheint die Balance zwischen schwarz und weiß besonders wichtig zu sein.
Das ist richtig. Die weiße Fläche des Papiers ist genauso wichtig wie die mit schwarzer Tinte geschriebenen Zeichen. Viele Leute konzentrieren sich zu sehr auf das Schwarze, aber man sollte in gleichberechtigter Weise die weiße Fläche betrachten. Darin besteht ein großer Unterschied des shodô zur Malerei. Nicht allein die bemalte Fläche ist von Bedeutung. Neben der Positionierung der einzelnen Zeichen auf dem Papier sind auch die Abstände zwischen den einzelnen Linien, sowie die Dynamik der Linien wichtig. Asymmetrien und scheinbare Unsauberkeiten sind beabsichtigt. Das ist vielleicht nur schwer zu verstehen, aber ein wesentlicher Bestandteil vieler traditioneller Künste Japans. Zum Beispiel scheint die klassische japanische Musik verglichen mit Werken von Mozart oder Bach voller Disharmonien zu sein.
Welche Rolle spielt beim shodô die Qualität des benutzten Materials?
Die Qualität von Pinsel, Papier und Tinte ist sehr wichtig. Mit gutem Material kann man natürlich auch bessere Werke erstellen. Ein guter Pinsel kann bis zu 1000 Euro kosten und ist aus Ziegenhaar hergestellt. Für Tinte und Papier ist das richtige Alter wichtig. Zwanzig bis dreißig Jahre sind ideal. Wichtig für die Qualität des Papiers ist auch die Jahreszeit. Während der japanischen Regenzeit im Juni ist das Papier feuchter und deshalb schlechter zu beschreiben. Je trockener das Papier, desto besser nimmt es die Tinte auf.
Wie wichtig und populär ist heute shodô in Japan?
Die Informationstechnologie hat es einfach gemacht, sich zu verständigen. Nicht nur shodô, sondern ganz allgemein wird das Schreiben per Hand im täglichen Leben immer unwichtiger. Viele Japaner können deshalb Kanjis nicht mehr richtig schreiben oder lesen. Das ist ein großes Problem nicht nur in der jungen Generation. Ebenso kennen viele Japaner die Bedeutung des shodô nicht mehr.
In der Grundschule haben zwar alle Kinder ein Mal in der Woche shodô-Unterricht, und in der weiterführenden Schule kann shodô als Wahlfach genommen werden. Aber leider gibt es an den meisten Schulen keine ausgebildeten shodô-Lehrer mehr. Zu meiner Zeit war das anders. Zudem gab es damals nicht so viele Fächer zur Auswahl, so dass mehr Kinder shodô gelernt haben.
Muss man Japaner sein, um Shodô-Künstler zu sein?
Es gibt einige Künstler, die keine Japaner sind, aber dennoch chinesische Zeichen in ihren Werken darstellen. Ich denke nicht, dass man diesen Kunststil als shodô bezeichnen kann. Übrigens gibt es auch japanische Künstler, die Kanjis und Kana zwar als Grundlage für ihre Arbeiten benutzen, aber eigentlich kein shodô machen.
In Europa und den USA sind japanische Zeichen sehr in Mode gekommen. Macht es Ihnen etwas aus, wenn Menschen im Ausland Ihre Arbeiten betrachten, ohne die japanischen Schriftzeichen zu verstehen und die japanische Kultur zu kennen?
Das ist kein Problem für mich. Auch viele Japaner können meine Werke nicht lesen. Wichtig ist das Gefühl, das man beim Betrachten meiner Kunst empfindet. Und ich hoffe, dass ich mit meinen Werken gemeinsame Gefühle bei den Menschen hervorrufen kann, um sie näher zusammenbringen.
Beschäftigen sich deshalb einige ihrer aktuellen Werke mit den Terroranschlägen in New York?
Ich hatte in den letzten Jahren mehrere Ausstellungen in New York und fühle mich daher mit der Stadt und seinen Bewohnern sehr verbunden. In meinen Arbeiten habe ich versucht, das Leid der New Yorker festzuhalten. Für dieses Werk habe ich vor allem Zeichen verwendet, die Trauer und Verzweiflung ausdrücken. Ich wollte aber auch einen ganz praktischen Beitrag leisten und habe eine Spendenbox für meine letzte Ausstellung gestaltet. Die Reaktionen waren sehr positiv.
Was bedeutet es für Sie, Ihre Kunst über die Grenzen Japans hinaus bekannt zu machen?
Für mich sind meine Ausstellungen im Ausland eine Möglichkeit, Japan den Menschen anderer Nationen näher zu bringen. Es ist für mich eine Freude, meine Kunst zu zeigen, gleichzeitig Kontakte mit anderen Menschen zu knüpfen und andere Kulturen kennenzulernen. Europa ist dabei am interessantesten für mich, weil die Europäer auf Grund ihrer eigenen Geschichte und Kunst großes Interesse und Verständnis für meine Werke zeigen.
HAMANO-san, vielen Dank für dieses Gespräch.