Erdbeben in Japan

Die Strafe des Katzenfisch Namazu

Erdbeben in Japan

NISHIZAWA Akiko liegt am frühen Morgen des 17. Januar 1995 mit Fieber im Bett. Sie kann nicht schlafen, wälzt sich von einer Seite ihres Futons zur anderen und ärgert sich, dass sie Fieber hat – gerade jetzt, wo sie doch am darauffolgenden Tag ihren 20. Geburtstag feiern wollte. Doch alles kommt anders als geplant: Um 5:46 Uhr und 52 Sekunden beginnt die Erde in einer Stärke von 7,2 auf der Richterskala zu beben – volle 20 Sekunden lang.

Akiko rollt sich instinktiv eine Ecke ihres Futons über den Kopf und überlegt einen Moment, unter einen Tisch zu kriechen – so wie sie es in einer der zahlreichen Erdbeben- Übungen in der Schule gelernt hatte. Doch sie verharrt und so plötzlich, wie das Beben begonnen hat, ist es auch schon wieder verschwunden. Akiko hört Lärm auf der Straße und schaut sich in ihrem Zimmer um: Alles liegt auf dem Boden und ihr schweres Metallbücherregal ist halb auf ihr Bett gestürzt.
Sie zieht sich etwas über und geht auf die Straße. Dort sieht sie viele Häuser ihrer Nachbarn eingestürzt, ihr eigenes Wohnhaus lehnt schräg gegen das Nachbarhaus. Akiko lebt in Nada, einem Stadtteil von Kobe und hatte soeben das offiziell als „Süd-Hyôgo“, allgemein aber als das „Große Hanshin“ bezeichnete Erdbeben erlebt – neben dem 1923er Beben in Tôkyô und dem 2011er Tôhoku-Beben das folgenschwerste japanische Erdbeben.

5.243 Todesopfer, 26.804 Verletzte, 106.763 zerstörte Gebäude und mehr als 300.000 Menschen, die ihr Zuhause verloren hatten. Mehr als 350 Feuer, die meist durch austretenes Gas entstanden waren, brannten mehr als 100 Hektar Wohnfläche nieder. Brücken und U-Bahn Tunnel stürzten ein, Schienen- Trassen und Straßen erlitten schwere Beschädigungen. Die Sachschäden werden insgesamt auf 95 bis 140 Milliarden U.S.- Dollar geschätzt.
So die offiziellen Statistiken, die nur annähernd das Leid beschreiben, welches das Beben für die Bewohner Kobes und der umgebenden Ortschaften gebracht hat. Laut Untersuchungen der Universität Kyôto lag das Epizentrum dieses Bebens etwa 10 km von Kobe entfernt in der Nähe der Küste in etwa 20 Metern Tiefe.

Erdbeben sind in Japan keine Seltenheit. In aktiven Zeiten kann man sogar mehrere kleine Erdbeben erleben, die von den Zeitungen – wenn überhaupt – mit einer kleinen Notiz kommentiert werden. Die Japaner haben sich an ein Leben mit den Erdbeben gewöhnt und investieren viel Geld in erdbebensichere Gebäudekonstruktionen und Methoden zur Vorhersage von Erdbeben. Doch Kobe hatte Ernüchterung gebracht: Der Stadt-Highway, der als absolut standfest galt, war eingestürzt und die Frühwarnsysteme hatten keine alarmierenden Daten ausgespuckt.

Fabelwesen und tektonische Platten

Japan zählt zu den am meisten gefährdeten Regionen der Welt. Dem japanischen Volksglauben nach bestraft der riesenhafte Katzenfisch Namazu, der tief in der Erde lebt, die Menschen für ihr lasterhaftes Leben, indem er durch seine Bewegungen die Erde erschüttern lässt.

Wissenschaftlich läßt sich der Erdbebenreichtum in Japan allerdings so erklären: Gleich drei Erdplatten – die Eurasische, die Philippinische und die Pazifische Platte – treffen unter dem japanischen Inselstaat aufeinander und erzeugen ständig Spannungen, wenn sie sich aneinander vorbeischieben. Wenn die Spannung zu groß wird, bricht das Gestein des Bodens und schiebt sich entlang einer Spalte an eine neue Position, wobei teilweise Gestein unter oder über eine der tektonischen Platten geschoben werden kann. Das Zerbrechen und Verschieben von Gesteinsschichten entlässt Energie, die sich in wellenförmigen Vibrationen, seismische Wellen genannt, von dem Fokus des Bruchs wegbewegen. Dabei unterscheidet man zwei Arten seismischer Wellen: Bodenwellen, die sich in hoher Geschwindigkeit durch das Erdreich bewegen und die langsameren Oberflächenwellen, die auch Tsunamis (Flutwellen) verursachen können.
Seismische Wellen, die sich durch den Boden entlang einer Spalte durch sich ausbreitende Risse fortsetzen, bewegen sich mit einer Geschwindigkeit von durchschnittlich 3,2 Kilometer/ Sekunde. Dies veranschaulicht die Energie die in einem solchen Erdbeben steckt und die auch innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Zeit, wie bei dem Kantô-Erdbeben von 1995, solch gewaltige Schäden anzurichten vermag. Die bei der tektonischen Plattenverschiebung freigesetzte Energie kann bis zu 10.000 mal größer sein, als die der Atombombe, die am 6.August 1945 über Hiroshima abgeworfen wurde.

Das folgenschwere Tôhoku-Erdbeben

Das in der jüngeren Geschichte Japans verheerendste Erdbeben ereignete sich am 11. März 2011 um 14.47 Uhr Ortszeit vor der Küste von Miyagi, 370 km nordöstlich von Tôkyô. Das Beben in 32 km Tiefe hatte laut der japanischen meterologischen Behörde JMA eine Stärke von 9,0 auf der Momenten-Magnituden-Skala. Am Festland hatte das Beben im Norden der Präfektur Miyagi noch eine Maximalintensität von 7M – das Tôhoku-Erdbeben gilt damit als stärkstes Beben seit Beginn der japanischen Erdbebenaufzeichnung. Das Beben löste eine Kette von Ereignissen aus: Einen 10 Meter hohen Tsunami und in der Folge eine Reihe von Unfällen in mehren Kernkraftwerken an der ostjapanischen Küste, insbesondere im Kraftwerk Fukushima-Daiichi. Hier kam es in drei von sechs Reaktorblöcken zur Kernschmelzn und zum Austritt großer Mengen radioaktiven Materials. 18.537 Menschen starben durch die Dreifachkatastrophe, 170.000 Menschen wurden aus dem atomar verseuchten Gebiet evakuiert. Insgesamt sind 375.000 Gebäude vollständig oder teilweise eingestürzt. Das Tôhoku-Beben hatte aber nicht nur regionale Auswirkungen: Es war so heftig, dass die gesamte Hauptinsel Honshû um 2,4 Meter nach Osten verschoben wurde.

Das große Kantô-Erdbeben

Eine ganze Serie von schweren Erdbeben traf in der Woche beginnend mit dem 1.September 1923 Tôkyô und Yokohama. Auch wenn es schon zuvor schwere Erdbeben in Japan gegeben hatte, keines hatte je so viele Opfer gefordert und so viel Schaden angerichtet. Der Grund hierfür, war der Ort des Bebens: 322 Kilomenter entlang der Pazifik Küste und viele Kilometer ins Landesinnere, somit also die auch damals schon am dichtesten besiedelte Region Japans. Alleine Tôkyô, 1920 die sechst größte Stadt der Welt, besaß durch die Eingemeindung aller Kleinstädte im Umkreis von 10 Meilen zum Imperialen Palast 5.164.000 Einwohner.

Sowohl in Yokohama, welches bis auf wenige Gebäude völlig zerstört wurde, als auch in Tôkyô, waren es durch austretendes Gas entstehende Feuer und Explosionen von Gas- Tanks, die so viele Menschenleben forderten. Ingesamt 60% Tôkyôs wurden durch die Beben zerstört, von denen das Beben am 1.September mit 5 Minuten bei einem Ausschlag von 7,9 auf der Richterskala am Längsten dauerte.
Eine gefährliche Begleiterscheinung von Erdbeben sind sogenannte Tsunami, Sturmfluten die sich mit Wellen von mehr als 10 Meter Höhe und hoher Geschwindigkeit auf die Küste zubewegen. Bei dem Kantô- Erdbeben von 1923 hatte eine 11 Meter hohe Sturmflut die unweit von Tôkyô liegende Insel Enoshima vollständig unter Wassermassen begraben. Alle Inselbewohner ertranken.

In Tôkyô wird jährlich zum Jahrstag dieser Katastrophe gedacht, bei der laut offiziellen Daten aus dem Jahr 1924 192.000 Menschen ihr ums Leben kamen und 700.000 verletzt wurden.
Damit sich eine solche Katastrophe nicht wiederholt, werden Vorkehrungen getroffen. Die Shizuoka Präfektur am Pazifischen Ozean und damit auf der Sagami-Bucht Spalte, gilt als gefährdeter Kandidat eines zukünfigen Erdbebens. Hier wurden detailierte Notfall-Pläne entwickelt, was im Falle des Falles zu tun wäre, inklusive Regulierung des Verkehrs, dem Schließen der Banken und Geschäfte und die Evakuierung der Einwohner.

Tôkyô heute

Auch für Tôkyô werden seit Jahren fatale Erdbeben vorrausgesagt. Um einer neuerlichen Feuersbrunst in der Folge eines Bebens vorzusorgen, stehen alle paar Meter Kästen mit Feuerlöschern in den Straßen. Darüber hinaus führt die Stadt-Regierung in regelmäßigen Abständen Sicherheitsüberprüfungen an Gebäuden in besonders gefährdeten Stadtteilen durch. Gebäude müssen auf besonders erdbebensichere Weise gebaut werden. Dabei stehen die Häuser, auch Hochhäuser wie z.B. das Tôkyô Metropolitan Bulding, das höchste Haus, in dem die Stadtregierung untergebracht ist, auf mehreren Ebenen beweglicher Fundamente und sind zudem so konstruiert, dass sie im Ernstfall schwingen können, ohne auseinander zu brechen.

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Tôkyôs Skyline mit dem 634 m hohen Skytree. Bild: (c) Bigstock

Doch selbst wenn die Wolkenkratzer das halten, was ihre Architekten und Statiker versprechen, und die staatlichen Katastrophen-Pläne wirklich greifen würden (was in Kobe übrigens nicht funktionierte), hätte ein Erdbeben in der 30 Millionen Einwohner Metropole fatale Folgen: Ältere Gebäude wie zum Beispiel die Plattenbau ähnlichen Danjô- Wohnanlagen könnten einem Beben nur schwer stand halten, Feuer würden sich den überall verfügbaren Feuerlöschern zum trotz aufgrund der städtebaulichen Dichte schnell ausbreiten können. Auch die sorgsam eingearbeiteten breiteren Straßen, die als Feuerbarriere in dem nur sieben Jahre währenden Aufbau nach dem 1923er Erdbeben mit eingeplant worden waren, würden die Feuer bremsen, aber nicht vollständig aufhalten. Das größte Problem bleibt die aufgrund der Enge eingeschränkte Möglichkeit der Evakuierung.

In Schulen und Arbeitsstätten werden mehrmals jährlich Notfall- und Evakuierungsübungen abgehalten und den Familien wird empfohlen, eine Notfallreserve an Trinkwasser und getrockneten Lebensmitteln, sowie ein Radio mit Batterien und eine funktionstüchtige Taschenlampe in den Haushalten aufzubewahren. Das Beispiel Kobe, bei dem die Bewohner trotz der Notsituation Ruhe bewahrten und vorbildlich einer Eskalation in Form von Panik und Plünderungen weitestgehend entgegengewirkt haben, hat gezeigt, dass solche Übungen und Vorkehrungsmaßnahmen tatsächlich Sinn machen.

Möglicher Umzug der Regierung

Allerdings: Ein Erdbeben in Tôkyô würde Japan sowohl politisch als auch wirtschaftlich für lange Zeit nahezu komplett lahm legen. Zu sehr ist das Land auf diese Metropole hin zentralisiert. Aus diesem Grund (und um der verkehrstechnisch ständig verstopften Stadt auszuweichen), diskutierte die Regierung in Tôkyô in den letzten Jahren mehrfach den Umzug des kompletten Regierungsapparates aus Tôkyô. Dabei wurden jahrelang drei Standorte in Betracht gezogen, die in erreichbarer Entfernung von Tôkyô liegen: Ein kleiner Ort bei Gifu, nord-westlich der jetzigen Hauptstadt. Tochigi im Fukushima Gebiet nördlich von Tôkyô. Und als letzte Variante Kyôto oder Nara, beides alte Kaiserstädte im Shiga-Gebiet. Abgesehen davon, dass Tochigi nun nicht mehr auf der Auswahlliste steht, ist man sich nicht einig geworden. Aufgrund der nach wie vor angespannten, wirtschaftlichen Lade Japans ist sogar strittig, ob man das Vorhaben überhaupt umsetzen könnte – schließlich würde ein solcher Umzug Unsummen verschlingen. Also geht erstmal alles weiter seinen gewohnten Gang in der überfüllten und lauten Großstadt.

Auch in Kobe geht das Leben schon lange wieder seinen gewohnten Gang. An die Stelle der eingestürzten Häuser sind Neue getreten, Straßen, Brücken, Tunnel und Schienen wieder repariert. Den Menschen, die damals für den Aufbau ihrer Häuser und Leben öffentliche Kredite aufnehmen mussten, hat das Gesundheits- und Wohlfahrtsministerium laut einer Entscheidung vom 1. Juni 2000 ein zeitliches Aussetzen der Rückzahlungsauflagen gewährt, um die finanzielle Last von den Opfern des Erdbebens zu nehmen.
Die alten Menschen reden noch hin und wieder über jene schrecklichen Ereignisse vor einem halben Jahrzehnt, während jüngere Menschen wie NISHIZAWA Akiko das Beben lieber verdrängen. Doch manchmal, so erzählt sie, wacht sie in den frühen Morgenstunden auf und muss an den schicksalhaften Morgen zurückdenken.

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