Täglich, wenn die letzte Bahn den Bahnhof Shibuya passiert hat, kann sich endlich auch Herr YAMADA zur Nachtruhe begeben. Ihn bringt kein letzter Zug mehr nach Hause, denn der Bahnhof ist bereits sein Zuhause. Herr YAMADA ist Anfang 50 und obdachlos. Seinen Posten beim Bau hat er verloren, weil er nach einer Herzoperation körperlich anstrengende Arbeiten nicht mehr ausüben konnte. Seine Krankenkasse hat ihn hinausgeworfen, da er sechs Monate nach der Operation immer noch nicht genesen war. Nun lebt er schon seit anderthalb Jahren in Obdachlosigkeit. Ohne Einkünfte und ohne ärztliche Versorgung.
Herr YAMADA ist kein Einzelfall. Er ist nur einer von den zehn bis 20 Obdachlosen, die regelmäßig auf dem Vorplatz des Bahnhofsausganges „Hachiko“ in Shibuya übernachten, einer von 6.000 bis 8.000 Obdachlosen in Tôkyô und einer der 30.000 geschätzten Obdachlosen landesweit.
Nach einer kurzen, unbequemen Nachtruhe, räumen die Obdachlosen vom „Hachiko“ noch im Morgengrauen die Fetzen ausgedienter Pappkartons, die ihnen als Unterlage gedient haben, aus dem Weg. Bis der Berufsverkehr einsetzt, müssen die Spuren der nächtlichen Besucher, die so gar nicht in dieses Glanzviertel passen, vollständig beseitigt sein.
Das gleiche Schauspiel wie in Shibuya, spielt sich am Bahnhof von Shinjuku in noch viel größeren Dimensionen ab. Hier schlagen täglich hunderte von Obdachlosen ihr Nachtlager auf und werden gleich vor Ort von wohltätigen Organisationen mit warmen Mahlzeiten und Wolldecken für den Winter versorgt.
Es sind nicht wenige, die obdachlos werden, weil sie nach dem Verlust des Arbeitsplatzes nicht mehr nach Hause zurückkehren. Sie denken sich eher eine Ausrede für ihr Fernbleiben aus, als die persönliche Schande vor der Familie einzugestehen. Sie hoffen, bald in ihr bisheriges Leben zurückkehren zu können, jedoch bleibt dieser Traum zumeist verwehrt. Wer nach dem Existenzverlust keinen Ausweg mehr sieht und sich vor dem Leben auf der Straße fürchtet, begeht Selbstmord. Die Zahl der Suizide hat seit Anfang der 90er Jahre, dem Ende der Seifenblasenwirtschaftszeit und dem Beginn einer der größten Wirtschaftskrisen, die Japan nach Kriegsende getroffen hat, stark zugenommen.
Diejenigen, die sich mit dem Schicksal der Mittellosigkeit abgefunden haben, ziehen oft in permanente Obdachlosensiedlungen, die sich zusehends in Parks sowie an Bahngleisen entlang ausbreiten. Dort errichten sie Pappkartonhäuser oder Zelte aus blauer Plane und halten diese Unterkünfte im einwandfreien Zustand. Die Schuhe werden, so wie es auch in japanischen Häusern allgemein üblich ist, am Eingang ausgezogen. Die Bewohner richten sich mit allerlei Dingen ein, die sie im Sperrmüll finden. Ihre Kleidung waschen sie in öffentlichen Toilettenhäusern und lassen sie in den Bäumen trocknen.
Das Bestreben der Obdachlosen, trotz Armut, ihren Lebensstandard mit den geringsten Mitteln aufrecht zu halten, versetzt Ausländer immer wieder in Erstaunen. Es sind außerdem nur sehr wenige, die straffällig werden. Die Ursache, warum die meisten Obdachlosen in Japan weniger verwahrlosen als beispielsweise in den USA oder in Deutschland, liegt wohl darin begründet, dass sie nur selten aufgrund von Alkohol- oder Drogenabhängigkeit auf der Straße landen, sondern fast ausschließlich, weil sie Opfer von Firmenpleiten oder -rationalisierungen werden. Die Mehrheit der Obdachlosen stellt die Gruppe der Männer im Alter von 50 Jahren und älter, die aufgrund ihres Alters nicht mehr zu vermitteln sind. Allerdings bleiben auch Frauen nicht vom Schicksal der Obdachlosigkeit verschont. Ihr Anteil ist auf 5-10% angewachsen.
Nachdem die Arbeitslosenquote im Jahr 1995 noch bei 3,4% lag, erreichte sie zu Beginn des Jahres 2001 erstmals 5% und wuchs bis zum Jahresende sogar auf 5,4% an.
Die Tatsache, dass in den japanischen Massenmedien viel häufiger die englische Bezeichnung homeless zum Einsatz kommt, als der japanische Begriff furôsha lässt vermuten, dass dieses Phänomen eher als eine äußere Erscheinung empfunden wird, als ein innergesellschaftliches Problem.
Die japanische Regierung hat es versäumt, der weiteren Ausbreitung von Obdachlosigkeit wirksame Maßnahmen entgegenzusetzen. Das Problem wurde durch polizeiliche Vertreibung aus Bahnhofsgegenden oder Parks aus den Augen geschaffen. Jedoch lässt sich die rasch anwachsende Armee derjenigen, die ihr Dach über dem Kopf verloren haben, nicht mehr verleugnen.
Es gibt zwar Bemühungen der Regierung, für die Betroffenen Arbeitsplätze zu schaffen, sowie Unterkünfte für einen kurzen Zeitraum zur Verfügung zu stellen. Jedoch kann bisher nur ein geringer Teil der Obdachlosen mit diesem Angebot versorgt werden. Mehr als staatliche Arbeitsvermittlungsinstitute, bieten kriminelle Vereinigungen ihnen Tagesjobs an. Diese Jobs sind jedoch meist extrem niedrig bezahlt und bieten keinerlei soziale Absicherung. Auch das Betteln ist in Japan keine lukrative Alternative. Es ist per Gesetz verboten. Kaum jemand in der Bevölkerung zeigt Anteilnahme und ist bereit, eine kleine Spende zu geben. In einem Land wie Japan, in dem es das Ziel eines jeden ist, für das Wohl der Gesellschaft und der Familie zu sorgen, genießen Obdachlose ein besonders niedriges Ansehen.
Ein Hilfsangebot ist zwar die staatliche Einrichtung einer Klinik, in der sich Betroffene kostenlos ärztlich behandeln lassen können, jedoch wird dieses Angebot nur zögerlich in Anspruch genommen. Patienten klagen über unfreundliche bis diskriminierende Behandlung. Außerdem eilt den Krankenhäusern im allgemeinen der Ruf voraus, dass ihre Hilfe allein darin bestünde, Obdachlose zeitweise von der Straße zu entfernen.
Vor einiger Zeit zu Beginn des massenhaften Aufkommens von Obdachlosigkeit äußerte sich Ministerpräsident KOIZUMI zu dem Problem und sagte den Betroffenen nur geringe literarische Fähigkeiten nach, und dass sie aus diesem Grunde an unterster Stelle in der japanischen Gesellschaft stünden. Laut einer im Auftrag der Regierung durchgeführten Untersuchung im März 2001 trifft diese Aussage jedoch gar nicht zu. Viele Obdachlose sind gebildet und einige von ihnen sogar ehemalige Salary Men. 70% der Obdachlosen sind körperlich gesund und 80% wollen einen Arbeitsplatz finden. Der Ministerpräsident, der sich trotz Anstieg der Arbeitslosenquote in seiner Amtsperiode und Stagnierung der Reformpläne immer noch hoher Beliebtheit in der Bevölkerung erfreuen konnte, sorgt mit seiner Aussage lediglich dafür, dass weitere Vorurteile geschürt werden. So lange jedoch die jahrzehntelang anhaltende Wirtschaftskrise nicht überwunden ist, sollte sich jeder der Gefahr bewusst sein, dass ihn schon morgen das gleiche Schicksal wie Herrn YAMADA oder eines der vielen anderen Obdachlosen treffen könnte.
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