Im Dezember 1997 geschah in Japan das, was man als den Alptraum eines TV-Programmdirektors bezeichnet. Die Zeichentrickserie „Pokémon“, die nicht einmal den Ruf hatte, gewalttätig zu sein, beförderte etwa 700 Kinder vorübergehend ins Krankenhaus. Die dafür verantwortliche Szene bestand aus einer raschen Abfolge von grellen Lichteffekten, die Stroboskop-Blitzen gleichkam. So hell, daß innerhalb von 4 Sekunden mehrere Hundert Zuschauer in den zeitweiligen Zustand von Blindheit und Epilepsie geführt wurden. Der japanische Verband der Fernsehindustrie befasste sich umgehend mit dem Fall und die Serie wurde für die nächsten Monate aus dem Programm genommen und überarbeitet.
Was wie eine weitere skurrile Nachricht aus dem Land der aufgehenden Sonne klingt, die Figuren dieser Zeichentrickserie überlebten die Schmach und schickten sich an, ihren globalen Siegeszug anzutreten. In den USA erreicht die Pokémon-Serie seit ihrem Start September 1998 regelmäßig Spitzenquoten im Nachmittagskinderprogramm. Pünktlich zum US-Kinostart im November des vergangenen Jahres verdrängten die Pokémons (kurz für „Pocket Monsters“) reale Berühmtheiten von den Titelblättern der Times oder The New Yorker. Der Erfolg des Kinofilms, der im April 2000 auch in Deutschland in die Kinos kam, liess nicht lange auf sich warten: in den ersten fünf Tagen spielte er etwa 50 Mio.$ ein, ein Rekorderfolg, über den die Disney-Konkurrenz nur staunte, denn noch nie hat ein Zeichentrickfilm so viele Zuschauer angezogen wie in dieser Novemberwoche.
Eines kann man schon mal vorausschicken: es handelt sich bei dem Film nicht um einen cineastischen Leckerbissen, man stößt nicht auf besonders poetische Bilder. Im besten Falle mag sich der erwachsene Zuschauer, so eine amerikanische Filmkritikerin, in einer Art „psychedelischer Sesamstrasse“ wiederfinden.
Das Pocketmonster Mewtwo wird von skrupellosen Wissenschaftlern in einem geheimen Labor auf einer abgelegenen Insel erschaffen. Dazu entnahmen sie dem seltensten Pokémon , Mew , einer Art Katze ohne Mund, die DNA, schufen aber ein unkontrollierbares Ungeheuer.
Das Experiment scheitert: die Kreatur erreicht die zehnfache Größe des Originals und die zigfache Boshaftigkeit. Mewtwo setzt wütend das Labor in Brand und verjagt die Menschen, als es feststellt, daß seine Geburt keinem sinnvollen Zweck diente. Diese Zeichentrick- Frankenstein- Figur ist jedoch nicht nur geprägt von seiner Zerstörungswut. Sie versucht nunmehr mit Intelligenz seine menschlichen und Pokémonnesken Gegenspieler auszuschalten, mit Hilfe modernster Anime – Gentechnologie. Als die Protagonisten, die Clique um den 12-jährigen Ash Ketchum und seinem drolligen Pokémon, Pikachu , auf der Insel landen, werden sie bereits von ihren „bösen“ Klons erwartet.
Mag Pokémon nicht Erwachsenenansprüchen genügen oder allenfalls ein ohnmächtiges Kopfschütteln erzeugen, Kinderherzen wird der Film in jedem Falle höher schlagen lassen. Worin liegt aber das Geheimnis dieses Erfolgs? Der Film, wie auch die Zeichentrickserie, fasziniert weder durch eine brilliante Animationstechnik, wie z.B. die computeranimierten Bilder von Toy Story, noch rühren die Pokémon-Figuren einen zu Tränen à la Disney. Der Grund liegt in der medialen Omnipräsenz, durch die die Kinder dem Pokémon-Fieber verfallen.
Bereits 1996 erschien in Japan Pokémon, das Spiel, für den zu dem Zeitpunkt bereits totgesagten Gameboy und sein Werdegang war ähnlich dem der darauf basierenden TV-Serie. Das Spiel wurde zunächst sogar von seiten des Konzerns mit Skepsis auf den Markt gebracht, ohne viel Aufsehen, ohne viel Werbung. Pokémon entwickelte sich jedoch mehr und mehr zu einem Renner, für Nintendo zu einer unerwartet großen Finanzspritze und zu einem Heilsbringer des eigentlich veralteten Gameboys. Die Untersuchung der Käuferstruktur ergab folgendes: es waren zumeist Kinder im Grundschulalter, die durch ihren kleinen finanziellen Spielraum aus dem Markt der großen 16- oder 32-Bit-Konsolen ausgeschlossen waren.
Die Idee zum Spiel entstand nicht in der Kreativ- Zentrale des Videospielgiganten, sondern im Kopf des japanischen Videospiel-Tüftlers TAJIRI Satoshi. Sie basiert auf seiner Kindheitsobsession, dem Sammeln und Beobachten von Insekten. Ähnlich diesem für japanische Verhältnisse auch nicht gewöhnlichen Hobby liegt der Auftrag des Spiels zunächst darin, Pokémons im Gebüsch, in Höhlen oder Flüssen aufzuspüren. Diese werden dann gehütet und trainiert: durch ein Verbindungskabel werden zwei Gameboys zusammengeschlossen und die eigenen Pokémons liefern sich Duelle mit denen des anderen Spielers, nur so erstarken die Knuddeltiere und können die nächste Verwandlungsstufe erreichen. Aber: Pokémons sterben nicht – wie in jedem Lustigen Taschenbuch fallen die Helden höchstens in Ohnmacht. Schlimmer wiegt schon fast die Möglichkeit, daß ein Pokémon wegen schlechter Behandlung durch das Verbindungskabel zum Gegner „überläuft“ – eine Katastrophe für Kinder. Besonders glücklich kann man sich aber schätzen, wenn man alle 150 Wesen gesammelt hat, wobei das 151. von TAJIRI ohne Wissen von Nintendo im Spiel versteckt wurde und als mysteriöser Gimmick die Verkaufszahlen noch erhöhen dürfte.
Das Videospiel, die Fernsehserie, die Kinofilme – ja, liebe Kinokritiker, es erwarten Euch noch zwei weitere Pokémon-Produkte auf Breitleinwand – Pokémons sind multimediale Superstars und sie lassen sich wunderbar vermarkten. Ob Kartoffelchips oder Gewürzpackungen in Japan, ob Maccaroni oder Kindermahlzeiten von Burger King in den USA, mit einem Pikachu auf der Verpackung wurde (und wird) jedes Produkt zum Renner. Besonders geschätzt werden von Kindern die Sammelkarten, man kann diese tauschen oder um sie in Gameboy-Duellen spielen. In den USA finden regelmässig „Training Camps“ statt, zu denen nicht wenige eine Reise von mehreren hundert Meilen auf sich nehmen.
Das Konzept geht auf: die Kinder kaufen sich das Spiel, weil die Figuren süss sind oder weil alle coolen Kids bereits eines besitzen, sie sehen die Fernsehserie – und sie werden dabei ununterbrochen beworben. Man kann den wirtschaftlichen Erfolg – in Zahlen ca. 6 Mrd. US$, die auf die Konten von Nintendo fliessen – nicht auf das Pokémon-Motto „Schnapp sie Dir alle“ reduzieren, es ist das Konzept des Hand-in-Hand-gehens gleich mehrerer Unterhaltungsmedien. Darin liegt auch der Unterschied zu bisherigen Modeerscheinungen, die sich für kurze Zeit im Kinderzimmer ausbreiteten und schliesslich nach einem halben Jahr wieder im Keller landeten, ob es nun die Power Rangers waren oder das Tamagotchi.
Info Box
Pokémon – The First Movie,
Japan/ USA 1999
Regie: Michael Haigney
75 Minuten (Farbe); FSK:0; Erhältlich in deutsch synchronisierter Fassung
Verleih (Deutschland): Warner Brothers
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