Es ist kurz vor acht Uhr abends. Draußen herrschen immer noch schwüle 26 Grad. Ich schleppe mich aus meinem Büro in die Ginza U-Bahn Station. Während der Fahrt mit der Marunouchi Linie nach Shinjuku falle ich ein paar Mal in einen kurzen Schlaf. Eingekeilt zwischen den Massen gelingt mir das auch im Stehen. In Shinjuku muss ich in die Keio Linie umsteigen. Gerade so schaffe ich es, mich aus dem Zug in den nächsten zu quetschen. Nur noch zwei Stationen und ich habe wieder einmal nach einem viel zu langen Arbeitstag die Tôkyôter Rushhour überlebt. Zu Hause angekommen ist es mittlerweile schon weit nach neun Uhr. Mein Magen knurrt hörbar. So sehr, dass ich mich nicht einmal mehr über einen Briefkasten voller Rechnungen aufregen kann. Als mir aus dem Kühlschrank eine tiefe Leere entgegen gähnt, und zu allem Überfluss dann auch noch die Batterien der Fernsteuerung meines Fernsehers schwächeln, breche ich vollends zusammen. Auf dem Tatami-Boden liegend starre ich entmutigt an die Decke über mir. Plötzlich höre ich rechts ein leises Krabbeln. Mit einem Ruck drehe ich meinen Kopf und schaue einer dicken, dunkelbraunen japanischen Kakerlake direkt auf die Fühler. Schreiend springe ich auf, greife geistesgegenwärtig nach meinen Rechnungen und renne aus der Wohnung.
Schnell erhole ich mich von diesem Schreck, denn, Glück im Unglück, ich wohne ja in Japan. Die Rettung liegt nur 160 Meter von meinem Apartment entfernt: ein Bequemlichkeits-Laden. Japaner sagen dazu Konbini, vom englischen Begriff Convenience Store abgeleitet. Es gibt praktisch nichts, was ein Konbini nicht an Dienstleistungen und Waren zur Alltagsbewältigung bietet. Mit einem Sortiment von knapp 3000 Artikeln ist der Konbini nicht nur ein kleiner Supermarkt. Er ist gleichzeitig auch noch Copyshop, Bank, Post, Spedition, Multimedia-Shop, Schnellrestaurant, Ticketservice, Toilette, Fotoladen und Reisebüro. Ein Hightech-Multiservicestore im Tante-Emma-Laden Format. An jedem Tag des Jahres 24 Stunden geöffnet. Omnipräsent kann man in Japan sprichwörtlich an jeder Ecke einer dieser Service- und Konsumoasen finden. Mittlerweile gibt es gut 50.000 Konbinis auf der Insel, die vereint über 5 Millionen Quadratmeter an Verkaufsfläche bieten – das ist bei weitem mehr als die Ausdehnung aller Kaufhäuser Japans zusammen. Gerade mal 2.400 Japaner teilen sich einen Konbini und in den dicht besiedelten Gebieten leben die Menschen höchstens 700 Meter von einem der Nachbarschafts-Läden entfernt.
So auch ich. Nach nur 126 Sekunden Fußmarsch stehe ich vor einem von grellem Neonlicht erleuchteten Mini Stop. Ich hätte auch mit dem Auto kommen können. Denn egal wie sie auch heißen, Seven-Eleven, Sunkus, Lawson, Circle-K, Daily oder auch der Family Mart: Alle unterliegen dem selben Prinzip. Ihr Erscheinen unterscheidet sich in den meisten Fällen nur im Namenszug über der gläsernen Eingangsfront. Deshalb hat auch mein Mini Stop standardmäßig kostenlose Kundenparkplätze direkt vor der Tür. Bequem eben.
Mein Mini Shop misst wie jeder durchschnittliche Konbini gerade mal 100 Quadratmeter, verteilt auf einen rechteckigen Grundriss. Die Eingangstür befindet sich asymmetrisch auf der linken oder rechten Seite der überdachten Gebäudevorderseite. Schon von draußen eröffnet sich einem das gesamte Innenleben, die vollständig verglaste Front lässt den Laden transparent erscheinen. Außen, gleich neben der Eingangstür, und niemals im Shop selber, stehen drei Mülleimer. Hier wird nach Vorschrift brennbarer, nicht-brennbarer und Dosenmüll getrennt. Außen rechts befinden sich Getränke- und Zigaretten-Automaten. Für ganz Eilige.
Als ich durch die Türe trete macht ein elektronisches Ding-Dong-Ding-Dong den Rest des Ladens auf mich aufmerksam. Die hellen Fliesen, die weißen Wände und das kalte Licht der grellen Neonröhren geben jedem Konbini den sterilen Charme eines Krankenhauses. Bei allen Shops ist die Anordnung des Interiors fast immer identisch. Der Laden besteht nur aus einem Raum. Lediglich die Unisex-Toilette und ein kleiner Lagerraum sind vom Rest des Verkaufsraums abgetrennt. Am Kopf, in der nähe der Eingangstür, erstreckt sich der Servicecounter mit ein oder zwei Kassen. An der Wand gegenüber dem Eingang befinden sich die Kühlregale für o-bentos (frische Speisen), Desserts, Milchspeisen und frische Getränke. Das Angebot reicht über O-Nigiri und Spaghetti bis hin zum Käsekuchen. Die Kühlschränke für die schier unendlich vielen unterschiedlichen Sorten japanischer Softdrinks stehen an der Wand gegenüber der Kassentheke. Entlang der Glasfront reihen sich die Zeitschriftenständer und der Self-Service Kopierer auf. In der Mitte des Ladens gibt es alle anderen Produkte des täglichen Bedarfs: Shampoo, Süßigkeiten, Schnürsenkel werden in zwei Regalreihen, die symmetrisch in der Hälfte durch einen Quergang unterbrochen werden, angeboten.
Die Mittelregale messen alle etwa 150 cm in der Höhe, die Abstände zwischen ihnen sind genormt. Auch kleinere Japaner können von jedem Punkt des Ladens aus den gesamten Innenraum überblicken. Diese Transparenz gibt ein Gefühl der Sicherheit. Nie entsteht Platzangst oder Orientierungslosigkeit im sonst so engen Japan.
Kennt man einen kennt man alle. Und so würde ich mich jetzt nicht nur in meinem Mini Shop sondern in jedem beliebigen japanischen Konbini sofort zurechtfinden. Das minimiert den Zeitaufwand im Land der knappen Ressourcen. Zielstrebig finde ich eingeschweißt in eine Plastikpackung meine Lieblingsspeise Okonomiaki. Absolut frisch. Rechts davon greife ich blind nach einer Flasche kaltem grünen Tee. Dann fehlen nur noch der Pack Batterien und die Kakerlakenfalle. Und schon stehe ich an der Kasse. Noch ist ein anderer Kunde vor mir. An der Rückseite der Kasse ist ein Bildschirm angebracht. Gähnend beobachte ich, wie sich Wetterbericht, Verkehrslage, News und Werbung auf dem Plasmaschirm abwechseln.
Je nach Tageszeit wuseln in einem Konbini zwischen nur einem bis zu 6 uniformierte Mitarbeiter herum. Sie sind rastlos damit beschäftigt Waren anzunehmen, Regale aufzufüllen, Kunden zu bedienen, die Böden zu schrubben oder auch nur Menschen Auskunft zu erteilen, die in den Laden kommen, um nach dem Weg zu fragen. arubeito nennt man die hire-and-fire Teilzeit-Beschäftigungsform dieser Angestellten. Vor allem Schüler, Studenten, Hausfrauen, Rentner oder Menschen, die sonst arbeitslos wären, halten die Konbinis für einen Hungerlohn zwischen 600 und 1000 Yen pro Stunde am Laufen. Das drückt die Personalkosten, führt aber trotzdem nicht zu Mängeln in der Servicequalität. Denn die Bedienung des Kunden ist eine Ehre für den Angestellten. Dank dieser japanischen Philosophie wird auch in meinem Mini Shop der Kunde jederzeit höflich und hilfsbereit bedient.
Natürlich auch als Ausländer, wie ich es einer bin. Ein süßlich-quäkendes Begrüßungs-irashaimase der Bedienung reißt mich aus dem Halbschlaf und signalisiert mir, dass ich an der Reihe bin. Schnell sind die Barcodes meiner Waren gescannt. Altersgruppe, Geschlecht verbunden mit Ort und Uhrzeit des Einkaufs werden unbemerkt gleich mit erfasst. Alle Daten werden online an eine Zentrale übermittelt, mit deren Hilfe nicht nur die nächste Lieferung zusammengestellt wird. Ein perfektes Point-of-Sales System. Für jeden Laden wird das Sortiment anhand der Käuferstruktur und des Käuferverhaltens optimiert. Nur Waren, die Kunden dieses Konbinis auch wirklich kaufen werden angeliefert. Würden also mehr Leute wie ich hier einkaufen, gäbe es um diese Uhrzeit mehr Einheiten Okonomiaki und eine größere Auswahl an Ungeziefervernichtungsmitteln. Der wirtschaftliche Erfolg der Konbinis beruht auf diesem perfekten Informations- und Distributionsnetzwerk. Dieses sorgt dafür, dass alle Regale immer mit den frischesten Waren zu jeder Tages- und Nachtzeit gefüllt sind, ohne dass dazu im Shop selber Platz für eine größere Lagerfläche verschwendet werden muss. Kein Lager bedeutet auch bei Veränderungen der Nachfragestruktur kürzeste Reaktionszeiten bei der Anpassung des Warensortiments. Jeder Konbini wird nachfragegesteuert bis zu sieben Mal täglich von flexiblen Mini-LKWs versorgt. Diese sind extrem wendig, können selbst in engsten Straßen rangieren und quirlen sich geschickt selbst zu Stoßzeiten durch den Tôkyôter Stadtverkehr.
Die Bedienung erledigt noch meine Rechnungen, wärmt mein o-bento in der Mikrowelle auf, und schon bin ich wieder auf dem Rückweg nach Hause. Dass Japan wie der Rest der Welt mitten in einem Wirtschaftstal steckt, merkt man in der Konbini Brache kaum. Während die Konsumkrise in Japan ein Warenhaussterben mit sich gebracht hat, bleiben die Konbinis wahre Goldgruben. Sie haben im Schnitt 800 Kunden am Tag, von denen jeder Waren im Wert von knapp 700 Yen kauft. Alle 8 Tage wird so ein Laden einmal ausverkauft – eine traumhafte Turnover-Rate. Pro Quadratmeter Shop werden rund 2 Millionen Yen umgesetzt, die Profitmarge liegt bei 30 Prozent.
Konbinis sind nicht nur die perfekte Umsetzung der japanischen Servicementalität. Sie reflektieren auch die alltäglichen Lebensgewohnheiten der Japaner, Veränderungen werden in Echtzeit adaptiert. Konsumoasen, die sich evolutionär perfekt an ihre japanische Umgebung angepasst haben. Sie sind auch ein Spiegelbild der japanischen Gesellschaft und Kultur. Als Resultat extremer räumlicher und zeitlicher Enge konnte der Konbini nur im Land der knappen Ressourcen wie Japan erfunden werden. Nichts ist hier so wertvoll wie Zeit und Raum. Für den Kunden bedeutet dies, dass er mit dem geringst möglichen zeitlichen Aufwand ein Maximum an Besorgungen und Erledigungen machen kann. Der Anbieter kann dies dem Kunden auf einer minimalen Fläche anbieten. Effizienter geht es nicht.
Manchmal gehe ich, wie viele Japaner auch, nur mal kurz in einen Konbini rein, um mich an heißen Sommertagen abzukühlen, während der Regenzeit unterzustellen, im Winter aufzuwärmen oder auch einfach nur um eine Zeitschrift zu lesen, während ich den Akku meines Mobiltelefons auflade. Sehr konbini eben.
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