Shirakaba

Die Shirakaba-Gruppe und ihre legendäre Zeitschrift

Shirakaba

Im Jahre 1910 erschien die erste Ausgabe der Literatur- und Kunst-Zeitschrift „Shirakaba“. Es waren an der berühmten Schule Gakushûin jedoch schon seit 1907 Bemühungen unternommen worden, eine solche Zeitschrift zu gründen.

Die Kommilitonen SHIGA Naoya (1883-1971) und MUSHANOKÔJI Saneatsu (1885-1976) hatten im Herbst 1907 geplant, gemeinsam eine Literaturzeitschrift herauszugeben, waren dabei jedoch an der Finanzierung gescheitert.
Im Sommer 1908 brachten die beiden, zusammen mit zwei anderen Studenten, ein Magazin namens „Bôya“ heraus. Im Herbst desselben Jahres erschien die Zeitschrift „Mugi“, herausgegeben von SATOMI Ton (1888-1983) und anderen, ebenfalls Studenten am Gakushûin. Etwa gleichzeitig wurde ein drittes Magazin herausgegeben, „Momozono“, das von einer Gruppe um YANAGI Muneyoshi (1889-1961) ins Leben gerufen worden war.

Im Jahre 1909 taten sich die drei Studentengruppen auf Drängen von MUSHANOKÔJI zusammen, und vereinten ihre Projekte zu einer einzigen Zeitschrift. Die erste Ausgabe der „Shirakaba“ erschien im April 1910. Als berühmteste Mitglieder der „Shirakaba“-Gruppe sind zu nennen: MUSHANOKÔJI Saneatsu, SHIGA Naoya, ARISHIMA Takeo (1878-1923) sowie SATOMI Ton und ARISHIMA Ikuma (1882-1974), beides jüngere Brüder Arishima Takeos. Ausserdem arbeiteten viele weniger bekannte Autoren für die „Shirakaba“, so zum Beispiel der Romanschreiber NAGOYA Yoshirô (1888-1961) oder KINOSHITA Rigen (1886-1925), der mit Gedichten auf sich aufmerksam machte. Die Gruppe der Autoren, die für die „Shirakaba“ geschrieben haben, nennt man Shirakabaha („Shirakaba-Schule“). MUSHANOKÔJI Saneatsu fungierte fast während der gesamten Erscheinungszeit des Magazins als Hauptantriebskraft; dabei tat er sich weniger in literarischer Hinsicht als durch organisatorische Leistungen und ideologische Inspiration für die Gruppe hervor.

Die Zeitschrift „Shirakaba“ sollte in erster Linie ihren Autoren als ein Medium dienen, mit dessen Hilfe sie ihre Werke veröffentlichen konnten. Alle Mitglieder der Shirakabaha stammten aus reichen Elternhäusern, waren also nicht von ihrem Schreiben als Einkommensquelle abhängig; die ersten Ausgaben wurden hauptsächlich durch das Vermögen der Familie MUSHANOKÔJIs finanziert. Die „Shirakaba“, die zunächst mit einer Auflage von 300 Exemplaren erschien und jeweils zwischen 90 und 150 Seiten stark war, hatte den Status einer nichtkommerziellen Zeitschrift, die von mehreren Herausgebern getragen wurde. Dadurch war sie frei von den Zwängen des Marktes und des literarischen Betriebs und konnte sich bewusst ausserhalb der professionellen Diskussion der Zeit stellen.

Die Gründungsmitglieder wählten den Namen „Shirakaba“, übersetzt „Die Weiße Birke“, weil sie mit diesem anscheinend nicht nur eine gewisse Frische und Jugend sondern vor allem die russische Literatur assoziierten, welche ihnen allen als wichtige Inspirationsquelle diente. Der Name wurde zur damaligen Zeit, wie aus Schriftstücken ARISHIMA Takeos auf Englisch hervorgeht, „Shirakanba“ ausgesprochen, da er aber im heutigen Japan shirakaba gesprochen wird, soll auch hier diese Form verwendet werden.
Die letzte Ausgabe der Zeitschrift erschien im Jahre 1923. Nach dem großen Kantô-Erdbeben der Taishô-Zeit im September 1923 wurde die „Shirakaba“ nicht wiederbelebt; es heißt, der ursprüngliche ‘Geist’ des Magazins sei in den Jahren davor ohnehin verlorengegangen. Sechs Monate später, im Frühjahr 1924 gründete NAGAYO Yoshirô die Zeitschrift „Fuji“, die noch einige Jahre lang die späten Projekte der „Shirakaba“ weiterführte, die Publikation wurde aber bereits im Juli 1926 wieder eingestellt.

Die Shirakaba als Literaturzeitschrift war sehr bedeutsam für die Kunstszene Japans, vor allen Dingen für die, der Taishô-Zeit. Die Mitglieder der Shirakabaha fühlten sich dem entstehenden japanischen Naturalismus eng verbunden.
Insgesamt kann man sagen, dass die „Shirakaba“ während ihrer Erscheinungszeit von 1910 bis 1923 eine Art Schlüsselorgan im literarischen und künstlerischen Leben Japans gewesen ist. Der wohl offenkundigste Verdienst der Zeitschrift ist, dass durch sie die westliche Kultur- und Gedankenwelt einem breiten Publikum vorgestellt wurde. Für viele Japaner waren die Aufsätze, Übersetzungen und Abbildungen in der „Shirakaba“ die erste Begegnung mit der Kultur der westlichen Welt. Die allgemeine Wertschätzung, die Künstlern wie Van Gogh, Cezanne oder Rodin im heutigen Japan zukommt, wird als ein „Erbe“ der „Shirakaba“ angesehen.

Aus der Zeitschrift sind eine Anzahl bedeutender literarischer Werke hervorgegangen und für einige der Mitwirkenden war sie Ausgangspunkt für eine lebenslange Karriere als Schriftsteller; viele lebten und schrieben noch bis nach dem zweiten Weltkrieg. In literarischer Hinsicht hat besonders der Schreibstil SHIGA Naoyas großen Einfluß auf viele Autoren seiner Zeit und auch auf spätere Generationen ausgeübt. AKUTAGAWA Ryûnosuke schrieb beispielsweise in einem psychologisch-emotionalen Stil, von dem er selbst sagte, er habe ihn nach dem Vorbild von SHIGAS shinkyô shôsetsu entwickelt. Es heißt auch, dass sogar die Schriftsteller der Proletarischen Schule der 20er Jahre, die die Shirakabaha eigentlich als konservativ und elitär ablehnten, sich in Stilfragen nach SHIGA richteten.

Entscheidend ist, sowohl im literarischen Bereich als auch allgemein, dass die „Shirakaba“ zu Beginn der Taishô-Zeit eine neue, lebensbejahende Denkweise verbreitet hat. In der Zeitschrift bekannte man sich offen zu einem Individualismus, der sich, im Gegensatz zur naturalistischen Vorstellung, als „positiver Ausdruck eines optimistischen Humanismus“ verstand. Dem Naturalismus, der das vorangegangene Jahrzehnt der Literaturproduktion Japans dominiert hatte, wurde auf diese Weise eine wirksame Alternative entgegengesetzt, die unter den jungen Intellektuellen schnell und begeistert aufgenommen wurde. Auch außerhalb der Metropolen taten sich Gruppen zusammen, die eine ähnliche Weltanschauung wie die Shirakabaha vertraten. Bernhard Leach, der viel in Shirakaba-Kreisen verkehrt hatte, sagte:

From […] the pages of Shirakaba enthusiasm spread all over Japan

In den späteren Jahren der Zeitschrift, als die Gründer ‘erwachsen’ geworden waren, etwas von ihrem ursprünglichen Idealismus verloren hatten und außerdem literarisch so erfolgreich waren, dass sie auch in anderen Zeitschriften veröffentlichen konnten, wurden jüngere Mitglieder aktiv, und das Image der „Shirakaba“ veränderte sich. Im Jahre 1923, als die Zeitschrift nach dem Kantô-Erdbeben nicht weitergeführt wurde, hatte sie wahrscheinlich einfach „ausgedient“. Die jungen Autoren hatten eine Möglichkeit gehabt, sich der Welt mitzuteilen und der verzweifelte Nihilismus der Naturalisten war entkräftet worden. Nachdem das Magazin „Fuji“, der erste Nachfolger der „Shirakaba“, 1926 die Publikation ebenfalls eingestellt hatte, nahmen noch einige andere Zeitschriften, zum Beispiel „Kokoro“ oder „Kono Michi“, den ‘Geist’ der Shirakaba auf.

Die Frage, was die einzelnen Mitglieder der „Shirakaba“ wirklich als literarischen Zirkel verbunden hat, lässt sich nicht ohne weiteres beantworten. Natürlich ist die Shirakabaha auch unter dem Aspekt zu sehen, dass es in Japan, damals wie heute, sehr wichtig ist, Mitglied einer Gruppe zu sein, über die man sich definieren kann und die einen Rückhalt für den Einzelnen darstellt. Hinzu kommt, dass die Autoren der „Shirakaba“ fast alle durch eine gemeinsame Schulzeit verbunden waren – ein wichtiges, bindendes Element, wohl nicht nur in der japanischen Kultur.

Gleichzeitig aber fällt in Bezug auf die „Shirakaba“ auf, dass die Zeitschrift, im Gegensatz zu vielen anderen Literatur- und Kunstzeitschriften des modernen Japan, über einen relativ langen Zeitraum bestehen blieb. Und das auch noch, nachdem viele der Autoren Berühmtheit erlangt hatten und die „Shirakaba“ theoretisch nicht mehr brauchten.
Obwohl die „Shirakaba“-Autoren zu einer verschwindend kleinen Gesellschaftsgruppe im damaligen Japan gehörten, haben sie, rückblickend, einen erheblichen Einfluss auf die Kulturentwicklung der Taishô-Zeit und auf die Bedeutung, die der westlichen Kunst und Literatur in Japan überhaupt zukommt, gehabt.

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